: Die Tulpenzwiebel-Verschwörung
Der Beruf des Journalisten ist heute so gut wie vererbbar, investigative Recherche dagegen schon fast ausgestorben. Die angebliche „vierte Gewalt“ wird stetig korrupter, und so gelingt immer häufiger die Geburt des Aufmachers aus dem Dreizeiler
von HELMUT HÖGE
Zwischen 1900 und 1920 veränderten sich – vorneweg in New York und Chicago – die Zeitungen. Bis dahin waren sie mehr oder weniger Parteiblätter gewesen – von dieser oder jener Klassenfraktion abonniert. Nun ging es plötzlich um Marktanteile und sie wurden aggressiv vermarktet – u. a. von Zeitungsjungen, die mehrmals täglich lauthals die aktuellen Schlagzeilen auf der Straße rausschrien. Noch 1990 verriet mir der Westberliner „Immobilienkönig“ Klingbeil, wie er einst als Zeitungsverkäufer anfing, sein erstes Geld zu verdienen: „Wenn mal nichts Besonderes los war, hatte ich einen Ausruf, der zog immer ‚Der blutige sensationelle Sonderbericht!‘. Müssen Sie sich merken, der ist zeitlos. Später ist daraus der größte Zeitungsgroßhandel Berlins geworden.“ – Ein Teil des Fuhrparks wurde 1968 bei der Springer-Blockade abgefackelt.
Mit der Veränderung der Tageszeitungen kam eine neue „Generation“ von Chefredakteuren ans Ruder. Dazu gehörte auch eine Gruppe um Robert Ezra Parks. Sie hatte davor in Deutschland Philosophie studiert – u. a. bei Husserl. Nun bewerkstelligten sie den ersten „Relaunch“ in der Medienbranche. Eine ihrer Neuerungen bestand in der hartnäckigen, investigativen Recherche, die z. B. in den „Muckraking“-Reportagen eines Upton Sinclair gipfelte. Man könnte hier von einem „New Journalism“ sprechen zu dem auch gehörte, die Zeitung selbst, das heißt Ereignisse in ihrer Redaktion, zum Thema zu machen. Die Gruppe um Parks zog 1914 weiter – und gründete die Chicagoer School of Sociology. Aus ihrer Journalistenzeit übernahmen sie in der Forschung zum einen den optimalen Erkenntnisstandpunkt der „Marginal Man Position“, die zumeist von jüdischen Emigranten eingenommen worden war, die ihre alte Heimat verlassen hatten, aber noch nicht in die neue Welt integriert waren.
Seit 1988 ist diese Position zu einer Jobbeschreibung geworden: im ersten Callcenter Berlins in der Fasanenstraße z. B., das von einem 68er gegründet wurde. Dort betreiben intelligente Anrufer rund um die Uhr am Telefon Investitionsforschung z. B. in Asien – meist im Auftrag von amerikanischen Firmen (Personalvermittlungen, Anwaltskanzleien etc.). Die Anrufer sind u. a. TU-Studenten aus Asien, die inzwischen ebenfalls zwischen zwei Kulturen stecken. Die Marginal Man Position, Foucault nennt sie „Juxtaposition“, ist heute selbst für postmoderne Putzfrauen ein Muss.
Daneben kreierten die Soziologen um Parks bei ihren Stadtrecherchen das „Nosing Around“ – heute z. B. eingeschweizert in der „Spaziergangsforschung“ von Lucius Burckhardt – für das Bauhaus Dessau. Der HU-Professor für europäische Ethnologie, Rolf Lindner, hat über die „Chicagoer Schule“ ein sehr schönes Buch geschrieben: „Die Entdeckung der Stadtkultur – Soziologie aus der Erfahrung der Reportage“.
Die Journalisten wurden in dieser Anfangszeit sehr schlecht bezahlt, sie rangierten gleich hinter den Sekretärinnen. Ihr Nimbus näherte sich dem der damals ebenfalls entstehenden Privatdetektive. Damals wurden die Zeitungen meist noch im eigenen Haus gedruckt. Die Drucker und Setzer waren seit jeher die Avantgarde im Gewerkschaftskampf gewesen, auch in den USA. Von ihrem Kampf, der um so wirkungsvoller war, je mehr die Zeitungen zum Leitmedium wurden, profitierten auch und vor allem die Journalisten. Obwohl sie meist auf der Seite der Arbeitgeber standen – die sie sozusagen handverlesen eingestellt hatten. Für Deutschland lässt sich diese Entwicklung nach 1945 noch einmal am Beispiel der US-Lizenz Tagesspiegel bzw. seines Gründers Meier nachvollziehen. Die Gewerkschaft IG Medien stellte vor einiger Zeit die Geschichte der Arbeitskämpfe beim Tagesspiegel zusammen.
Überall gilt jetzt aber, dass die Journalisten sich kollektiv hoch gearbeitet haben, wobei ein großer Teil ihres Gehaltes nun Schweigegeld bzw. Schmutzzulage ist. Früher sagte jeder Journalist noch: „Meine Kinder sollen es mal besser haben.“ Noch in den Achtzigerjahren gehörte der Journalistenberuf – in Jugoslawien z. B. – zu denen mit der geringsten Lebenserwartung – wegen der vielen Drogen, die in den Redaktionen verbraucht wurden: Zigaretten, Kaffee, Schnaps und Tabletten. Heute sorgt jeder Journalist, der Kinder hat, als erstes dafür, dass sie bei irgendeinem Medium unterkommen. Der Beruf des Journalisten ist hierzulande schon fast vererbbar. Es gibt inzwischen ganze CvD-Dynastien, die sich vom Opa über den Onkel bis zur Nichte in die Öffentlich-Rechtlichen z. B. eingewurmt haben. Niemand glaubt deswegen z. B. Nina Ruge, dass sie nicht die Tochter von Gerd Ruge ist. Als meine Freundin Cornelia bei der FAZ anfing, hörte sie im Fahrstuhl, wie Frank Schirrmacher, der gerade zum Feuilletonchef ernannt worden war, zu seinem alten Studienfreund und neuem FAZ-Autor sagte: „Und vergiss nicht, ab jetzt nur noch im teuersten Hotel abzusteigen!“ Einer anderen Freundin fiel einmal in einem teuren Pariser Restaurant der taz-Presseausweis, den ich ihr besorgt hatte, aus der Tasche. Der Oberkellner hob ihn auf – und verzichtete prompt auf die Rechnung. Sabine Vogel bediente in einem Kampener Restaurant auf Sylt gelegentlich den damaligen Bild-Chef Peter Boehnisch: Als Prominenter zahlte er jedoch nie, sondern unterschrieb nur die Rechnung – die der Wirt dann zähneknirschend wegwarf.
So was sind inzwischen aber schon fast Peanuts. Es geht heute um z. B. von Shell finanzierte Journalistenreisen nach Afrika, um Gazprom-Hubschraubertouren durch Sibirien usw. Mark Siemons flog neulich umsonst nach Taiwan, ich nach Djakarta – er auf Einladung des Staats, der mangels Botschaften die Journalisten für sich werben lässt, und ich auf Einladung der Stadt, die von der UNO Geld bekommen hatte, um nach dem Bürgerkrieg den Tourismus – über Reiseberichte im Ausland – wieder anzukurbeln. Auch dort war das Beste gerade gut genug – für uns Journalisten, wenn auch leider nur für drei Tage, ich wäre gern drei Jahre geblieben. Von einem Fünf-Sterne-Hotel aus betreibt man jedoch kein Muckraking, höchstens verhuschten Gefälligkeitsjournalismus.
Inzwischen bezeichnen sich die Medien stolz als die „vierte Gewalt“ – und werden immer korrupter. In Deutschland seit der Wende zudem paternalistischer: In der Jungen Welt hat Werner Rügemer gerade berichtet, wie die scheinbar seriösen Titel Handelsblatt und Neue Zürcher Zeitung völlig unkritisch, um nicht zu sagen säuisch, die holländische Softwarefirma Baan hochjubelten, auf das immer mehr Leute die Aktien dieser Verbrecherbaande kauften. Als sie dann abstürzten, kam heraus, dass das ganze ein „organisierter Betrug“ war, an dem diese Zeitungen sich wohlüberlegt beteiligt hatten.
Heute wollen sie davon nichts mehr wissen – und pushen stattdessen andere Software- bzw. Internetfirmen. Dabei ist dieser ganze New-Economy-Hype nur eine alberne Neuauflage der einstigen holländischen Tulpenzwiebelspekulation, die im goldenen niederländischen 18. Jahrhundert wenigstens noch den Charme des Unfassbaren hatte: Damals schaukelten sich an der Börse über Warentermingeschäfte die Preise für einzelne Tulpenzwiebeln auf bis zu 300.000 Gulden hoch.
Die jetzige Hysterie wäre dagegen höchstens noch ein Tummelplatz für Muckraker, aber solche gibt es unter den Journalisten, die munter die Seiten wechseln – heute Lokalreporter, morgen Justizpressesprecher, übermorgen Lifestyle-Layouter – nicht mehr. Sie gehören spätestens seit dem Zerfall der Sowjetunion allesamt als Gutverdiener zu den Kriegsgewinnlern – und sind deswegen als „kritische Kraft“ nicht mehr zu gebrauchen. Es ist sicher kein Zufall, dass es in ganz Berlin nur noch einen solchen altbackenen Journalisten gibt – und der ist Amerikaner: Mathew D. Rose. Sein letztes Buch befasste sich mit der Korruption in Berlin. Im übrigen Bundesgebiet gibt es vielleicht noch weitere drei bis fünf Kollegen dieser Art.
Dafür haben wir jedoch hier jetzt gleich im Dutzend Nachrichtensprecher wie Ulrich Wickert, die philosophische Werke am laufenden Band raushauen.
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