: Laues Bekenntnis zur Straße
Seit fast 20 Jahren verlieren regionale Boulevardblätter an Auflage. Von der „Münchner Abendzeitung“ ist am ehesten die Trendwende zu erwarten. Doch Kritiker werfen dem neuen „AZ“-Chef Kurt Röttgen vor, die 1970er-Jahre wieder aufzuwärmen
aus München KONRAD LISCHKA
Es gab eine Zeit, da stand in Berlin die Mauer, Franz-Josef Strauß wütete gegen „verdreckte Vietcong-Anhänger, die da öffentlich Geschlechtsverkehr treiben“, und die Münchner Abendzeitung (AZ) konnte ihre Auflagenkurve ganz unironisch mit „ein Weltstadtblatt im Aufwärtstrend“ betiteln. 1968 war das. Damals wurden 322.800 Exemplare verkauft. Heute sind es 180.026. Im vierten Quartal 2001 gingen die Verkaufszahlen weiter nach unten.
Damals rühmte sich die AZ ihrer Korrespondenten in New York, Rom, Paris, London und Madrid. Heute schreiben aus dem Ausland Pauschalisten. Damals schwärmte AZ-Gründer und Herausgeber Werner Friedmann von einer „chemischen Mischung“ aus „Sensationen, Skandalen, schönen Damen, Politik, Kunst, Wirtschaft und Wissenschaft“ mit „Stil und Niveau“. Heute sprechen selbst AZ-Redakteure vom „Krawallblatt“.
Dabei erwartet man von der AZ am ehesten ein innovatives, erfolgreiches Konzept für Regional-Boulevardjournalismus. Wie Herausgeberin Anneliese Friedmann im Editorial zum 50. AZ-Geburtstag schrieb (wie auch schon zum 40.): „Die Abendzeitung ist zwar eine Straßenverkaufszeitung, aber durchaus kein Gossenkind, vielmehr eine Boulevardzeitung besonderer Art“.
Einiges hat die AZ mit der Süddeutschen Zeitung gemeinsam: die Kantine, die journalistischen Grundwerte und den Gründer Werner Friedmann, der auch einer der SZ-Lizenznehmer war. Exemplarisch zeigt die Titelseite der ersten AZ vom 16. Juni 1948 all das, was die Zeitung heute noch ausmacht: Die innenpolitische Schlagzeile „Zweizonenrat als provisorische West-Regierung“ hätte an diesem Platz so auch in einer Abonnementzeitung stehen können. Die Überschrift „Max Schmeling will in München boxen“ allerdings nicht. Das war die 1948-Version der noch heute gültigen AZ-Formel mit den Faktoren München, Prominenz, Weltstadt.
Die AZ mischt Anspruch und Boulevard: Ab und an schreibt Peter Glotz, etwa über „Volksgeistmystik“ und „Ethnonationalismus“ der guten Deutschen, im Kulturressort arbeiten zehn (!) Redakteure, sogar ein früherer taz-Chef hat einmal das Blatt stellvertretend geleitet. Auch heute findet man, nachdem die Titelseite mit „Münchner Fünflinge feiern Geburtstag“ überschlagen ist, eine ganze Seite von Professor Moshe Zimmermann über Ariel Scharon.
Doch diese besondere Mischung zieht die Leser nicht mehr an. Zumindest nicht mehr so wie früher. Die verkaufte Auflage der AZ ist zwischen dem ersten Quartal 1998 und dem dritten 2001 um 9,1 Prozent auf 179.951 Exemplare gesunken. Beim Berliner Kurier waren es im selben Zeitraum 13,14 Prozent Verlust, bei der Hamburger Morgenpost 13,25 Prozent, beim Kölner Express 13,3 und bei der Morgenpost für Sachsen 9,11 Prozent.
Der Pressestatistiker Walter J. Schütz stellt fest: „Seit 1983 sind die Auflagen aller Boulevardzeitungen deutlich gesunken, und zwar schon zu Zeiten, als die der Abonnementzeitungen noch stiegen. Das ist auch nicht verwunderlich, da es sehr viel mehr andere Unterhaltungsangebote gibt.“ Seit 1984 ist die schöne Dreiprogrammwelt vorbei, der verkabelte Durchschnittsdeutsche kann zwischen 30 TV-Kanälen wählen. Für AZ-Chef Röttgen spielt auch eine Rolle, dass sich die Abozeitungen heute viel weiter für Boulevardthemen öffnen als früher üblich.
Sein Vorgänger Uwe Zimmer, der nach 13 Jahren als AZ-Chef heute die Neue Westfälische in Bielefeld leitet, glaubt: „Den Wettlauf mit dem Fernsehen können Zeitungen nicht gewinnen.“ Zimmer hatte bei der AZ ein neues Konzept für regionalen Boulevard erprobt. Am 14. April 1997 erschien eine AZ, die so etwas wie USA Today werden sollte: So viele Nachrichten wie nötig, so knapp formuliert und übersichtlich wie möglich. „Mehr Information, mehr Service, mehr Sorgfalt“ versprach Zimmer im Leitartikel. Die Auflage sank zunächst und pendelte sich ein bei 185.000 Exemplaren.
Ein Drittel per Abo
Zimmers Nachfolger Kurt Röttgen werfen Redakteure nun Konzeptlosigkeit vor. Man könne nicht „einfach zurück zum 70er-Jahre-Boulevard“. Überhaupt wisse niemand genau, „wohin Röttgen mit der Seite eins will“. Er schon: „Die Seite eins musste lauter, aggressiver werden. Die AZ musste sich wieder dazu bekennen, dass sie auf der Straße gekauft wird.“
Denn nicht einmal ein Drittel der Auflage verkauft die AZ über Abonnements, auch wenn diese Quote im Verhältnis zu anderen Boulevardzeitungen recht hoch ist. Röttgens Konzept ist simpel und einleuchtend: „Das Interesse der Menschen an Unterhaltung, an Klatsch ist gerade in einer so prallen und sinnlichen Stadt wie München mit seiner Bussi-Gesellschaft enorm.“ Mit den Bussi-Themen will er Gelegenheitskäufer locken, die dann die anderen Qualitäten der AZ wie Politik, Kultur und den Service im Geldteil entdecken.
Klare Sparvorgaben
Doch damit kann man vielleicht Leser halten, aber offenbar nicht zum Erstkauf animieren. Und: Wer ordentliche Inhalte mit publikumsträchtigen Lockmitteln anbietet, braucht Geld. Genau das könnte bei der AZ zum Problem werden. Geschäftsführer Christoph Mattes bestreitet, dass es eine Vorgabe gibt, 16 Prozent des Personals einzusparen. Allerdings wolle man „über die nächsten fünf Jahre hinweg den Gesamtbestand reduzieren“.
In der Redaktion werden die Sparpläne heftig kritisiert. „Die Eigentümer wollen eine tolle Zeitung, die aber nichts kosten darf“, sagt eine Redakteurin. Kritisiert wird auch der Führungsstil Röttgens: Ressortleiter würden „wie Schuljungen“ grundlos abgewatscht, zudem kommuniziere Röttgen sein Gesamtkonzept nicht genügend. Der hält dagegen: „Mein Konzept habe ich oft dargelegt. Ich verstehe mich als Team-Player, anders geht es auch gar nicht.“ Tatsache ist, dass viele Redakteure seit dem Chefwechsel gekündigt haben. Einige, wie Kulturchefin Stefanie Schild, gingen ausdrücklich wegen Röttgens Führungsstil, andere wegen der neuen Ausrichtung.
Ob diese der AZ nützt, bleibt abzuwarten. Die Käufer sind stumm. Röttgen verweist darauf, dass die AZ teurer ist als die Konkurrenz, doch er will die Entwicklung „nicht schönreden“, sie sei „unerfreulich“. Doch die Auflagenverluste der AZ können nur teilweise mit dem gestiegenen Verkaufspreis erklärt werden. Walter J. Schütz ist da sehr pessimistisch: „Wann der Punkt gekommen ist, dass ein Titel sich nicht mehr rentiert, muss man von Ort zu Ort anders beantworten. Vier Millionen überregional wie bei Bild sind eine Menge, 150.000 regional sind schon eher eine Zahl, wo man anfängt nachzudenken.“ Die Auflage der AZ liegt noch weit darüber. Eine untere Schmerzgrenze will bisher niemand nennen.
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