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Zögerliche Spurensuche

Wort für Wort die eigene Familiengeschichte nachbuchstabiert: Die Installation „UnseenScene. 10. Brief“ der „Documenta X“-Teilnehmerin Penny Hes Yassour im Hamburger Kunsthaus offenbart nur scheinbar Privates

Es ist eine Arena, komponiert aus den Gesetzestafeln Mosis. Aus Zettels Träumen, die man nur langsam entziffert: Mit vier Stellwänden voller auf Papier gemalter Schriftzeichen hat die israelische Künstlerin Penny Hes Yassour, Documenta-Teilnehmerin von 1997, das Hamburger Kunsthaus bestückt. Eine zunächst unspektakuläre Installation, auch wenn die 1950 geborene Künstlerin diesen Begriff nicht mag. Der Titel: UnseenScene. 10. Brief.

Die Vertreibung Papenburger Juden in den dreißiger Jahren erzählen die Blätter – eine Geschichte, auf die Yassour selbst wohl nicht gekommen wäre, hätte sie nicht 1999 Hans Joachim Albers angesprochen, der die Vergangenheit der Familie Hes ergründete. Albers‘ Vater war mir Penny Hes Yassours aus Papenburg stammenden Vater befreundet, der 1933 nach Palästina auswanderte.

In zehn Briefen hat Albers der Künstlerin seither die Geschichte ihrer Vorfahren erzählt. Ein merkwürdiges Oszillieren zwischen Fremdheit und Nähe ergab sich daraus. Und ob Yassour bis dato Familienforschung betrieben hatte – man weiß es nicht. Sicher ist nur, dass sie schon lange ihr Mind Mapping betreibt, individuelle Erinnerungen und Assoziationen nach außen stülpt. Markantestes Beispiel war ihr Documeta-Beitrag – eine Gummihaut mit spinnennetz-gleich daraufgezeichneten Reichsbahnstrecken von 1937, die Assoziationen an KZ-Transporte wecken.

Doch auch wenn UnseenScene gängige jüdische Ikonographie aufzunehmen scheint – Grabsteine oder Gesetzestafeln mit archaischen Schriftzeichen –, transportiert das Werk weit mehr. Denn es ist ein sehr privates Dokument, das Yassour ausstellt, und bewusst hat sie eine Epoche ihrer Genealogie gewählt, die eine markante historische Schnittstelle darstellt. Mit dem Finger hat Yassour die Buchstaben des Briefs nachgezogen, als male ein Archäologe Keilschrift-Zeichen nach, weil er sie nicht mitnehmen kann.

Zu lesen sind die Blätter Reihe für Reihe, von oben nach unten; man ist also gezwungen, sich immer wieder zu „verneigen“ vor dem fremden Schicksal, das Yassour als exemplarisch begreift. Bedeutsam ist dabei vor allem die Tatsache, dass Yassour auf den Augenblick setzt, wobei der Titel UnseenScene die Doppelbödigkeit des unter der Oberfläche Durchscheinenden offenbart. Ein großes (militärisches) Tarnnetz deckt auch einen Teil der dritten Textwand ab, als sollten Buchstaben wieder zurückgenommen werden. Und auch die Offenbarung, die Yassour durch Preisgabe des Briefs betreibt, bleibt Spiel des Moments.

Denn das Original rückt sie nicht heraus. Um sich ihm zu nähern, muss der Besucher stehend den nachgemalten Text entziffern. Vielleicht ein Hinweis darauf, dass es nichts nützen würde, das Original vor sich zu haben. Darauf, dass man bei dessen Lektüre denken würde, das habe man alles schon mal gehört. Bei Yassours Skript kann man nicht sicher sein, bis man zu Ende gelesen hat. Und da das nur wenige durchhalten, werden etliche Geheimnisse bleiben.

Doch kurz bevor man komplett in alttestamentarischem Duktus versinkt, hat Yassour eine weitere Bremse eingebaut: eine Installation aus Möbeln der sechziger Jahre. Auf ein Brett genagelte Schränke und Schubladen sind es, die Yassour als Chiffren für scheinbar privates, in Wirklichkeit ästhetisch gleichgeschaltetes Lebensgefühl eines Jahrzehnts begreift. Die Möbel liegen da, wo die fünfte Textwand hängen könnte. Die für die Zukunft bestimmte. In die Yassour Spotlights ihres eigenen Lebens gewuchtet hat.

PETRA SCHELLEN

bis 9.11., Kunsthaus Hamburg, Di–So, 11–18 Uhr

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