Der Ego-Tripper: Von Paris nach Berlin ohne Geld

Gegen die Spießergesellschaft hangelt er sich von Pump zu Pump, von Weiler zu Weiler. Der Autor Andreas Altmann ist ein Narziss par excellence

Am Anfang war die Sehnsucht. Andreas Altmann saß in seinem Pariser Stammcafé und sah in der Illustrierten eine Sechszylinder-Autowerbung, darunter der Text „Désir“. In diesem Moment packte ihn eine andere, gänzlich autofreie Sehnsucht: die Idee, von Paris nach Berlin zu marschieren, 1.100 Kilometer weit, durch Frankreich, Luxemburg, Belgien und Deutschland.

Am 11. Juni 2003 verlässt Altmann seine Winzwohnung in Paris, die üblichen „Stabilisatoren“ – Geld, Status, Image – bleiben zu Hause. Er fühlt sich als „masochistisches Würstchen“, hat gerade mal 2,77 Euro, drei Äpfel, 16 Salamischeiben und zwei Dutzend Zigarillos im Rucksack. Aber Altmann ist ein (Über-)Lebenskünstler, schon nach 13 Minuten Fußreise legt er den ersten „Pump“ an – den Ausdruck hat er von seinem geistigen Kumpel Henry Miller geschnorrt – und bettelt um altes Brot in einer Bäckerei. Zunächst vergeblich.

Doch um einen Tausendsassa wie A. A., der sich als Nachtportier, Taxifahrer, Anlageberater, Dressman, Buchclubvertreter, Schauspieler am Münchner Resi und hoch dekorierter Reporter (Kisch-Preisträger) erfolgreich durchs Leben geschlagen hat, muss einem nicht bange sein.

Geistige Wegzehrung bedeutet ihm mehr als materiale Essenszufuhr: „Ich merke (ein uralter Reflex), dass mich Worte bisweilen radikaler sättigen als eine verdammte Portion Cornflakes.“ Und so sättigt er uns Leser bis zum Gehtnichtmehr mit gesammelten Schlauheiten, verwöhnt uns auf jeder dritten Buchseite mit Literaturzitaten, Filmszenen, Philosophieweisheiten, Liedzeilen – Proust und Hesse, Ettore Scola und James Dean, Nietzsche und Cioran, Bob Dylan und Juliette Gréco. Der doppelte Altmann: Der Tippelbruder wandert zielgerichtet nach Osten, und der Reporter schreibt bissig gegen das „abenteuerleere Mitteleuropa“ und die Windelgesellschaft, gegen Spießertum und Vollkasko-Mentalität.

Und so hangelt er sich von Pump zu Pump, von Weiler zu Weiler, von dem „Secours catholique“ zur Bahnhofsmission. Mal ist ein Obdachlosenheim sein Zuhause für eine Nacht, meist schläft er aber unterm Himmelszelt. „Neben den Stiefeln deponiere ich wie immer die kleine Buddhastatue und das Bild einer Frau, die bei jeder Erinnerung an sie mein so weit entferntes Herz beschleunigt. Von ruhigem Schlagen auf Hämmern. Der Erleuchtete und die Göttin, sie werden mich behüten.“ Andreas Altmann ist ein Ego-Tripper par excellence, ein gnadenloser Narziss, manchmal höchst amüsant, nicht selten zutiefst peinlich. Sein größter Coup: In Bad Frankenhausen räubert der Hungerleider einen Kühlschrank im Pfarrhaus aus. Dabei hatte ihn sein Verleger noch Tage zuvor per E-Mail ermahnt, „auf der Reise keine Zechprellerei und keinen Diebstahl“ zu begehen. Auch diese Botschaft muss aus Altmann raus und rein ins Buch: „Verleger hungern nicht, Autoren hungern.“

„Zuschauen ist nicht leben“, weissagt er uns mit Karl Jaspers und lebt unterwegs seine Fantasien aus, gerne auch die erotischen. Und wir schauen ihm dabei mit Fassung zu. Auf der Zielgeraden ruft ihm jemand zu: „Halten Sie Abstand, Sie verpesten ja die Gegend!“ A. A. ist stolz auf sich: „Den Gestank habe ich mir hart erarbeitet.“ Aus dem Bücherwurm ist ein veritabler Tippelbruder geworden.

Er zieht erfolgreich Bilanz: 1.863.918 Schritte, 17 Blasen, 217 Pumps, 3.647 verlorene Gramm Körperfleisch, 34 Tage und 33 Nächte. Der Mann, der die Erbsenzähler hasst, ist nun endlich in Berlin angekommen.

GÜNTER ERMLICH

Andreas Altmann: „34 Tage – 33 Nächte. Von Paris nach Berlin zu Fuß und ohne Geld“. Frederking & Thaler, München 2004, 224 Seiten, 30 Farbfotos, 24 €