: 10.00
…
Kapitel 5 des Ulysses beruht Archivrecherchen zufolge in weiten Teilen auf dem Bericht eines inoffiziellen Mitarbeiters (IM), der Leopold Bloom in den Vormittagsstunden – konkret zwischen 10 und 11 Uhr – konspirativ observierte. Offenbar dienten Joyce Berichte wie dieser als Grundlage für eine weitere literarische Berarbeitung. Zum Beispiel:
Kreisdienststelle III, Dublin, 19. Juno 1904
Vorgang: Operative Personenkontrolle (OPK)
Ziel: Leopold Bloom, feindl.-neg. Vertreter d. subvers. Gruppierung „Freimaurer“
Zeitraum: 16. 6. 1904, 10:00 – 11:00 Uhr
Quelle: IM „Ascot“
Auftrag: Oberleutnant (OLt.) Fuchs
Bearbeitung: siehe Auftrag
I. Abschrift d. 3. Zwischenberichts OPK v. IM „Ascot“
(Orig. handschriftl. verfaßt)
Entsprechend des mir erteilten Auftrags zur OPK des B. bezog ich am frühen Vormittag des 16. 6. 1904 vor dem Haus Eccles-Straße Nr. 7 Stellung. Gegen 9.47 verließ B. das Haus ohne Begleitung und setzte sich in Richtung Sankt Georgs Kirche in Bewegung, querte schließlich den Kanal und bewegte sich dann scheinbar ziellos entlang der Hafenanlagen am Genosse-John-Rogerson’s-Kai in Richtung Ringsend – bis dato ohne besondere Vorkommnisse. Es erfolgte weder durch B. noch durch eventuell verdeckt folgende negative Käfte der Versuch einer konspirativen Kontaktaufnahme. Auch konnten soweit keinerlei Beobachtungen hinsichtlich imperialistischer Agententätigkeit getätigt werden.
Folgenlos passierte B. gegen 10:16 Uhr das Telegrafenamt in Höhe Hausnummer 18 und bog direkt hinter dem Unterbringungsobjekt landgängiger Fischfangfacharbeiter (Name: Seemannsheim) rechts ein in die Limettenstraße. Weiterer Verlauf des Stadtganges: Lime-Straße bis Ecke Stadtrandstaße, Stadtrandstraße in westlicher Richtung; Queren der Stadtrandstraße auf Höhe Westland-Reihe; Westland-Reihe in südlicher Richtung. Einzige Auffälligkeit: provozierend langsame Schrittabfolge, die dem vorgeblichen Charakter der Ziellosigkeit des Fußmarsches (Spaziergang) Ausdruck verleihen sollte.
Gegen 10:19 Uhr unterbricht B. den eigenen Fortschritt für einen Zwischenstopp vor dem Einzelhandelsobjekt „Belfast Original Tee Kompanie“. Unter Vortäuschung von Interesse für die schaufensterinnenseitig dargebotenen Teeerzeugnisse zieht B. seine Kopfbedeckung, Modell Herrenhut, um ein hutinnenseitig (vermutlich unter Schweißband) verborgenes Papier verdeckt zum Vorschein zu bringen, welches er daraufhin verdächtig rasch in der rechten Westentasche verschwinden läßt.
Hierbei handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um die wenig später operativ genutzte Empfängeridentifikation zur rechtmäßigen Abholung postlagernd gesandter Nachrichten.
(Anm. OLt. Fuchs:
Anweisung zur konspirativen Beschaffung und Duplikation des genannten Papiers durch Abt. VII, Ref. 2 erfolgt)
Gleichzeitig wurde ich eines medialen Druckerzeugnisses gewahr, welches sich offenbar bereits längere Zeit in B.s Besitz befand. Die Tatsache, daß ein käuflicher Erwerb selbiger im Zeitraum der OPK ausgeschlossen werden muß, legt den dringenden Verdacht einer Inbesitznahme des Druckerzeugnisses im Streckenabschnitt Limettenstraße – Westland-Reihe nahe. Übergabe durch als Passant getarnten Kurier nicht ausgeschlossen.
Im folgenden querte B. gegen 10:21 Uhr die Westland-Reihe zum Zwecke eines Postbesuches. Bedingt durch die territoriale Problemstellung innerhalb des Postamtes (deckunggebende Säulen lediglich im Fensterbereich) verunmöglichte die operative Erfassung des Gesprächsinhalts zwischen B. und dem Schalterbeamten.
(Anm. OLt. Fuchs:
Auswertung der Gesprächsnotiz, AZ. 324.78.5, IM „Kuvert“, ergab keinerlei zielführende Bedeutung)
Visuelle Observation: B. reicht die o. a. Empfängeridentifikation dem Beamten, der daraufhin ein Fachregal hinsichtlich eingegangener Post inspiziert, um B. dann einen Umschlag zu übereignen, welchen dieser unverzüglich zwecks Lagerung in die rechte äußere Jackentasche überführt. Gegen 10:25 verläßt B. das Postamt und setzt den Fußweg die Westland-Reihe hinauf fort – auffallend zielstrebig.
Wenige Meter nach Verlassen des Postein- bzw. -ausgangsbereiches stößt B. scheinbar zufällig mit einem ihm bekannten Mann mittleren Alters zusammen, dessen Begrüßung B. mit den Worten „Hallo, M’Coy“ erwidert.
(Anm. OLt. Fuchs:
bezüglich des C.P. M’Coy liegen folgende Informationen vor, die lt. AZ. M273.54.3 den dringenden Verdacht einer feindlichen nachrichtendienstlichen Tätigkeit nahelegen: M’Coy ist u. a. tätig als:
a) Angestellter der Mittelländischen Eisenbahngesellschaft;
b) freischaffender Anzeigenakquisiteur für div. Verlagshäuser;
c) Kommissionsreisender für div. Betriebe d. Brennstoffhandels;
d) Schreibkraft im Büro d. ABV für 4. Bezirk;
e) Sekretär des für Tötungsverbrechen zuständ. Pathologen im Kreisgebiet;
f) Privatdetektiv (sporadisch)
Es muß beim Treffen B.s und M.s davon ausgegangen werden, daß es sich hierbei um eine minutiös geplante Aktion innerhalb einer feindlich-gegnerischen Befehlskette handelte. Anweisung zur Optimierung der OPK M’Coy an Abt. V, Ref. 2 erfolgt)
Von meinem operativ gewählten Oberservierungsstandpunkt (Toreinfahrt des anliegenden Gebäudekomplexes) aus, unternahm ich den Versuch, dem Gespräch zwischen B. und M’Coy relevante Informationen im Sinne der Operation zu entnehmen. Die große Anzahl von Passanten sowie der rege Verkehr – insbesondere durch an- und abfahrende Fahrzeuge vor der monopolbourgeoisen Luxusherberge „Grosvenor“ – führte zu einer erheblichen akustischen Störung. In einem Moment relativer Geräuscharmut gelang das Aufschnappen folgenden Gesprächsfetzens, geäußert seitens des M’Coy: „ (…) Beteiligung am Profit (…)“ Diese Äußerung nährt den Verdacht, ein geplantes Eigentumsdelikt befinde sich in der Planungsphase oder stehe unmittelbar vor seiner Durchführung. Eine Meldung an die zuständigen staatlichen Organe ist m. E. zwingend erforderlich.
(Anm. OLt. Fuchs: erledigt!)
Kurz vor Beendigung der Unterhaltung erhielt B. offenbar zudem eine Anweisung unbekannten Inhalts von M’Coy, welche B. mit den Worten: „Mach ich“ quittierte. Gegen 10:36 erfolgte Verabschiedung (knapp).
B. schritt unmittelbar weiter in Richtung Brunswick-Straße, als er eine unvermittelte Körperdrehung vollzog, wie wenn er Verfolger vermutete. Einer drohenden Enttarnung konnte ich mich ebenfalls nur durch eine rasche Rechtsdrehung (abwenden) entziehen. Diesen kurzen Augenblick nutzte B. offenbar dazu, sich meinem Sichtfeld zu entziehen – durch Einbiegen in die Große Brunswick-Straße mit anschließendem Passieren des Taxihalteraumes. Eine beschleunigte Verfolgung führte zu einer Einholung auf Höhe der sogenannten Kutscherkneipe, wo B. in Begriff war, den bereits geöffneten Brief zwecks verdeckten Lesens in das mit sich geführte Presseerzeugnis zu falten. Ein erneuter Versuch, der OPK zu entgehen, erfolgte unmittelbar darauf durch neuerliches Abbiegen in die südliche Cumberland-Straße. Vergebens.
Von einer Hausecke verborgen, tätigte ich die Beobachtung, wie B. lesend an einer Mauer lehnte und dabei eine offenbar im Kuvert mitgelieferte Blume – nicht näher erkennbarer Spezies – mittels Einsteckens an seinem Jackett befestigte (möglicherweise definiertes Signal für ein bevorstehendes Treffen).
Unmittelbar danach setzte B. den Fußmarsch fort. Unterhalb der Eisenbahnbrücke machte sich B. umgehend an die Vernichtung des Beweismaterials mittels Zerreißens des Briefes und großflächiger Ausbringung der Schnipsel in der Gasse (südliche Cumberland-Straße). Durch sofortiges Eingreifen konnten 90 Prozent des zerstörten Dokumentes sichergestellt werden.
(Anm. OLt. Fuchs:
sofortige Rekontruktion des Beweismaterials erbrachte folgende Erkenntnisse:
a) B. nutzte im Rahmen der Durchführung subersiver Tätigkeiten den Decknamen „Henry Flower“ – unter diesem Namen hatte B. am 23. Mai 1904 in der Publikation „Irische Zeit“ eine Annonce geschaltet, mittels der er vorgeblich nach einer „versierten Schreibkraft für literarische Arbeiten“ suchte. Lt. AZ 235.43B68 steht eine abschließende Dechiffrierung der Annonce durch die Abt. VII, Ref. 2 unmittelbar bevor.
b) B. unterhält offenbar seit einiger Zeit regen postalischen Informationsaustausch mit einer gewissen „Martha“ – hierbei handelt es sich um die 35jährige Martha Clifford (lt. AZ 876.23K56), die sich als eine von 44 Bewerberinnen auf die o. g. Annonce beworben hatte.
c) legt der sichergestellte Brief den Verdacht nahe, B. und M. unterhielten eine außereheliche Liebesbeziehung, welche sich vorgeblich in ihrem Anfangsstadium befinde – eine endgültige Dechiffrierung durch Abt. VII, Ref. 2 steht aus.
d) Einleitung strategischer Kontrollprozesse bezüglich der Martha Clifford erfolgt durch Abt. X, Ref. 3; Anwerbung zur gelegentlichen Berichterstattung in Prüfphase)
Verursacht durch die o. g. Verzögerung drohte der OPK wegen Aus-den-Augen-Verlierens temporär das Scheitern. Letzte optische Erfassung B.s an hinterseitigem Ausgang der Aller-Heiligen-Kirche in südlicher Cumberland-Straße. Gegen 10:46 Uhr Dank umgehender Verfolgung Erreichen des Eingangs mit anschließender Entdeckung B.s in hinterer Kirchenbank sitzend, ohne Begleitung. Ein u. U. geplantes m. E. konspiratives Treffen konnte zu diesem Zeitpunkt bereits stattgefunden haben.
(Anm. OLt. Fuchs:
Umstand des Kirchgangs wegen akuter Dissonanz prüfen: B., gebürtiger Jude, anglikanisch getauft (protest.), besucht kath. Gottesdienst; dringende Inspektion d. o. g. Kirchenbank auf Kassiber resp. toten Briefkasten, Memo an Abt. X, Ref. Reli1)
10:48 Uhr – Ende des Gottesdienstes. B. erhebt sich aus der Bank, schließt zwei Knöpfe seiner Weste (!) und verläßt den Sakralbau durch das gegenüberliegende Hauptportal. Mit großer Zielstrebigkeit bewegt sich B. dann Westland-Reihe in südliche Richtung, quert in Höhe der Lincoln-Park-Straße den Fahrdamm und betritt unmittelbar das Apotheken- und Drogeriefachgeschäft F. W. Sweny & Co (G.m.b.H.), Lincoln-Park-Straße 1. Die observationsfeindliche Größe resp. Kleine des Objektes erlaubte lediglich eine externe Überwachung. B.s Verbleib in der Apotheke zögerte sich in der Folge m. E. über das notwendige Maß hinaus. Nach einer etwa 8minütigen Wartezeit und erneuter Einschätzung der operativen Lage faßte ich den Entschluß, daß ein konspiratives Eindringen zwingend erforderlich war.
Überraschenderweise trat B. in exakt diesem Moment durch die Ladentür und wurde meiner gewahr. Der erneut drohenden Dekonspiration konnte ich nur durch unmittelbare Konfrontation entgehen (Methode: Ansprache). Unter Vortäuschung meines Interesses für die bürgerlich-dekadente Pferderennsportveranstaltung von Ascot trat ich an B. heran und bat diesbezüglich um Einblick in sein unterhalb der rechten Achselhöhle getragenes Presseerzeugnis, wobei es sich augenscheinlich um das sogenannte „Freeman Journal“ handelte. B. bot an, es zu überlassen, wovon ich, nach eingehender Prüfung auf Echtheit, keinen Gebrauch machte. Vorgebend, dringend ein Wettbüro aufsuchen zu müssen, zog ich mich zurück. B. entfernte sich Richtung Dreifaltigkeitskolleg.
Die nun stets präsente Gefahr einer folgenreichen Enttarnung verunmöglichte im Folgenden die Fortsetzung der OPK Bloom meinerseits. Resultierende Konsequenz: Zeitnahe Meldung beim Führungsoffizier. Via Telegraf erhielt ich Anweisung, den Inhaber des Drogeriefachgeschäftes (F. W. Sweny) einem verdeckten Verhör zu unterziehen. Wie dieser im Verlauf der vorgetäuscht-harmlosen Unterhaltung gesteht, habe Bloom ursprünglich lediglich eine Salbe aus Süßmandelöl, Orangenblütenwasser, Benzoetinktur und weißem Wachs in Auftrag gegeben, sich dann offenbar seines Seifenmangels erinnert und ein Stück der olfaktorischen Note süßlich-zitronig zum Preis von vier Pfennig erstanden.
(Anm. OLt. Fuchs:
1) lt. Protokoll IM „Trimester“, AZ 342.34K.2, v. 16. 6. 04 passierte B. geg. 10:59 Uhr grüßend die Pförtnerloge des Dreifaltigkeitskollegs in der Lincoln-Park-Straße und betrat wenig später die türkische Badeanstalt, Leinster-Straße Nummer 11;
2) IM „Ascot“ als Quelle in Sachen OPK Bloom verbrannt;
3) IM „Hammam“ übernimmt OPK Bloom bis auf Widerruf)
gez. Ascot
f.d.R.d.A.: Oberleutnant Fuchs
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen