: Stare in der Stadt
Im Schwarm gleichen die Stare ihre Gesänge einander an und formen auf diese Weise komplizierte Dialekte, die sich selbst innerhalb einer Stadt wie Berlin unterscheiden. So erkennen sie sich als Angehörige derselben Kolonie. Für Stare ist der Gesang also wesentlich ein Gemeinschaftsereignis
VON CORD RIECHELMANN
Der vorzeitige Frühling hat ein paar Vorteile. Die Bäume sind noch nicht mit Laub zugedeckt, so dass es möglich ist, auch in den hohen Ästen zu sehen, was passiert. Und da kann man im Berlin-Kreuzberger Viktoriapark seit ein paar Tagen einen Star beobachten, der in etwa zwanzig Meter Höhe vor einem Astloch sitzt und singt. Dabei sträubt er immer wieder die Kopf-Kehlfedern, richtet den Schnabel aufwärts, hebt die Flügel leicht an und drückt den Schwanz runter an den Ast, auf dem er sitzt. Das gibt ihm kurz zwischendurch ein buckliges Aussehen. Erhebt er sich wieder aus der buckligen Stellung, werden seine Töne lauter und höher und er schlägt dazu zittrig mit den Flügeln oder lässt sie rotieren.
Wenn ein anderer Star vorbeikommt, hüpft er immer sofort um den Eingang seines Astlochnestes, geht kurz rein, kommt wieder raus und singt weiter in seinem pausenlos knarzenden Songsound. Manchmal scheint es dann, das die beiden zweistimmig zusammen singen. Das scheint aber nur so, denn auch wenn der andere wieder weg ist – und bis jetzt ist noch keiner so lange geblieben, dass man von einem Paar reden könnte – bleibt der Gesang zweistimmig. Das hat mit der „Natur“ seiner Stimme zu tun. Starenmännchen können zweistimmig singen. Die Oberstimme, in der sie legato arteigene Motive aus hohen, grellen Trillern mit allen möglichen Imitationen verflechten, unterlegen sie in der Unterstimme staccato mit kurzen, ratternden Elementen. Wobei die Imitationen oft in kaum mit dem bloßen Ohr hörbarer Weise entweder als Zitate oder als rhythmische Marker in den Song eingebaut werden.
Nach bisherigem Kenntnisstand können Stare ihr ganzes Leben lang hinzulernen und ihre Gesänge um die unterschiedlichsten Töne erweitern. Stare nehmen sich nicht nur die arteigenen Laute zum Vorbild. Sie sind genauso empfänglich für Töne anderer Vogelarten wie Spatzen, Amseln oder Krähen und bauen auch Hundebellen, Katzenschnurren oder Froschlaute in ihre Vorträge ein. In der Stadt werden sie außerdem zum Resonanzraum des Straßenverkehrs, indem sie die Geräusche anfahrender oder bremsender Autos, Polizeisirenen und Baustellenlärm imitieren. Dadurch spiegeln ihre Gesänge auf für Menschenohren subtile Weise ihren Lebensraum und ihre verschiedenen Klangmuster. Dabei sind sie so etwas wie die Biografie des Sängers und die seiner soziologischen Ontologie.
Der Star vor dem Astloch war zwar allein in dem Baum, aber das liegt nur am Mangel an Bruthöhlen. Starenmännchen können sehr dicht nebeneinander vor den Höhlen sitzen, seien es alte Spechtbauten, von Menschen aufgehängte Bruthilfen wie Vogelkästen oder einfach Aushöhlungen in alten Gemäuern, ohne sich etwas zu tun oder sich gegenseitig zu vertreiben. Sie verteidigen nur die unmittelbare Umgebung ihrer Nesthöhle.
Die Weibchen wählen vorrangig denjenigen Star, dessen Vortragsform die anderen an Variantenreichtum und Dauer übertrifft. Und sie lassen sich offenbar nur von dem Gesang verführen, die Qualität des Reviers, das heißt der Bruthöhle scheint ihnen nebensächlich zu sein. Denn anders als Nachtigallen oder Amseln, die ihre Nahrung während der Aufzucht der Jungen fast ausschließlich in ihrem durch Gesang markierten Territorium finden, suchen Stare nicht nur in ihrem Revier – dem Höhleneingang – nach Futter. Sie sind selbst im Frühjahr während der Paarbildung und Jungenaufzucht in der Stadt sehr beweglich, erhalten die Kommunikation innerhalb des Schwarms aufrecht und haben es gar nicht nötig, sich von ihren Artgenossen abzugrenzen, um ihrer Brut ausreichend Nahrung zu sichern.
Und zu wem der Star vor dem Astloch gehörte, das konnte man den ganzen Herbst und Winter über im Viktoriapark gut sehen. Dann saßen sie im Schwarm oft im Turm des von Schinkel entworfenen Mini-Nachbaus des Kölner Doms, der auf dem Gipfel des Kreuzbergs steht, und redeten ununterbrochen mit knarzendem Geschwätz miteinander.
Solange es hell ist, sind Stare während ihrer gemeinschaftlichen Rast nie still. Die schnurrend schnalzenden Töne können von knackend scharfen Rätschen durchzogen sein und klingen wenig melodisch. Trotzdem sind die Geräusche für das menschliche Gehör angenehm.
In großen Ansammlungen gleichen Stare ihre Gesänge einander an und formen auf diese Weise komplizierte Dialekte, die sich selbst innerhalb einer Stadt wie Berlin unterscheiden. So erkennen sie sich als Angehörige derselben Kolonie. Für Stare ist der Gesang also wesentlich ein Gemeinschaftsereignis. In den Schwärmen „schwätzen“ beide Geschlechter. Und die von allen gemeinsam geäußerten Töne fördern und bestärken vermutlich das Gefühl von Vertrautheit und damit Zusammengehörigkeit.
Das Hin und Her zwischen dem individualisierten Werbegesang der Männchen, der paarweisen Aufzucht der Brut und der Nahrungssuche im Schwarm könnte auch einer der Gründe sein, weshalb Stare ihre Lebensräume auch akustisch in ihren Stimmen spiegeln. Die durch die Aufnahme fremder Töne gesteigerte Variabilität ihres Gesangs verschafft ihnen einerseits ganz handfeste Vorteile bei der Paarbildung, und andererseits bieten die zu Teilen in den Schwarmgesang überführten neuen Töne die Chance einer unverwechselbaren lokalen Identität und damit schnelle Erkennbarkeit der Zugehörigkeit.
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