: Der Talmud ist von Kugeln durchlöchert
■ Die größte Synagoge Istanbuls hat sich nach dem Attentat vom Samstag in einen Ort des Schreckens verwandelt Die Geschichte der Juden vom Bosporus ist von friedlichem Zusammenleben mit der übrigen Bevölkerung geprägt
Aus Istanbul Ömer Seven
Blut– und Brandgeruch beherrschen die größte jüdische Betstätte Istanbuls. Offensichtlich haben die Attentäter wahllos mit Maschinengewehren und Handgranaten die Teilnehmer der Messe ermordet. Die Blutspuren reichen bis in die rund 25 Meter hohe Kuppel des Gebäudes. Der Druck der Explosion hat den größten Teil der Fenster zerstört, Altar und Holzverkleidungen sind verkohlt. Zerfetzte Ausgaben des Talmud, handgestickte Decken und Kleiderfetzen schwimmen in Blutlachen. Der widerwärtige Anblick offenbart auch ideologische Spuren: Eine gebundene Ausgabe des Talmud ist in der Mitte von Kugeln durchlöchert. Es ist das zweite Mal in meinem Leben, daß ich Neve Schalom (Haus des Friedens) betrete; beim ersten Mal kam es mir wie der friedfertigste Ort der Erde vor: gelegen in Galata, dem alten genuesischen Viertel Istanbuls, seit 60 Jahren einfach vergessen. Seit rund 500 Jahren leben Juden in Istanbul, nachdem sie Ende des 15. Jahrhunderts durch die Osmanen Asyl vor der spanischen Inquisition erhielten. Sie stellen keine Lobby für den Staat Israel dar, zionistische Strömungen haben in Istanbul nie Fuß gefaßt. Die Sprache der Juden Israels ist ein Altspanisch, gemischt mit alttürkischen, griechischen, persischen und arabischen Wörtern, weist auf das friedliche Zusammenleben hin. Angesichts der spanisch–katholischen Judenverfolgung Ende des 15. Jahrhunderts ist es der osmanische Sultan Beyazit II, der ein Sondergesetz erläßt, um den bedrohten Juden im osmanischen Reich Asyl zu gewähren. Unter Führung des Admirals Barbarossa läuft die osmanische Flotte nach Spanien aus. Zehntausende werden über den Meeresweg in das Osmanische Reich gebracht. Um die Jahrhundertwende zählte Istanbul eine jüdische Bevölkerungvon 100.000 Men schen. Antisemitische Bewegungen, wenn auch im Ausmaß nicht vergleichbar mit der europäischen Situation, entwickelten sichin den 30er und 40er Jahren. Ein Großteil der jüdischen Bevölkerung Istanbuls, insbesondere die Ärmeren, wanderten nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel aus. Gegenwärtig leben noch rund 10.000 Juden in Istanbul. Die jüdische Gemeinde der Stadt bereitet sich zur Zeit auf die Feierlichkeiten zum 500. Jahrestag ihrer Ankunft in Istanbul vor. Das gute Verhältnis des islamisch beherrschten Osmanischen Reiches gegenüber den Juden ist auch der Grund dafür, daß - im Gegensatz zu den arabischen Ländern - die islamischen fundamentalistischen Kräfte in der Türkei keine offene antisemitische Propaganda betreiben. Eine türkische Beteiligung an dem Attentat erscheint von daher recht unwahrscheinlich. Notdürftig sind in Neve Schalom ein paar Quadratmeter gesäubert worden, um die Särge dort abzustellen. Die Polizisten wirken hilflos. Abscheu und Ekel sind die Reaktionen der Leute, die auch am Sonntag mittag noch in großen Trauben vor der Synagoge stehen. Neve Schalom ist kein Haus des Friedens mehr.
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