piwik no script img

„Mehr Bewegung, weniger Pillen“

■ Gesundheitspolitischer Kongreß der CDU / Plädoyers für die Eigenverantwortlichkeit der Individuen / Gesundheitspolitik braucht kein Geld, sondern Bewußtseinsveränderungen

Aus Bonn Oliver Tolmein

Für „Gesundheitspolitik in einer freien Gesellschaft“ braucht die CDU keinen Jesus mehr, Medizin–Technik machts möglich: „Taube können wieder hören, Blinde wieder sehen“. CDU–Generalsekretär Heiner Geißler pries zur Eröffnung des Gesundheitspolitischen Kongresses seiner Partei den technischen Fortschritt und sang das Hohelied der Selbstverantwortung: „Der Staat kann Gesundheit nicht garantieren“. Der Einzelne soll sie sich selbst erhalten. Und das kann er, denn die Behauptung, arbeits– und umweltbedingte Krankheiten nähmen stetig zu, qualifiziert Geißler als „typisch ideologische Behauptung“ ab. „Mehr Bewegung, weniger Pillen“ sei ein probates Rezept, das Ärzte viel häufiger verschreiben sollten. Auf dem ganztägigen Kongreß, zu dem etliche konservative Mediziner, aber auch die Naturheilkundeverfechterin Veronika Carstens, als Referentinnen geladen waren, sollte keine wissenschaftliche Bestandsaufnahme stattfinden. Vielmehr sollte er eine ideologische Offensive für eine Gesundheitspolitik sein, die, wie die Ministerin Süßmuth betonte, ohne neue Kosten nur mit „dem Willen und der Bereitschaft zur Zusammenarbeit“ zu gestalten ist. Andere Antworten hat die konservative Gesundheitspolitik, die harter Kritik auch aus den eigenen Reihen ausgesetzt ist, nicht zu bieten. Weder ist es ihr gelungen, auf dringende gesundheitspolitische Fragen, wie z.B. die Finanzierung der Pflege, Antworten zu geben, noch hat sie es geschafft, die Kosten tatsächlich zu begrenzen. Mit modern klingendem, in haltlich aber unverbindlichen Vokabular von „kleinen Einheiten“, „vorbeugender Gesundheitspflege“ und „Selbsthilfe“ bestritt Gesundheitsministerin Süßmuth ihre Rede. Gerade die Selbsthilfegruppen zeigen ihrer Meinung nach, daß Eigenverantwortung Betroffener und nicht eine umfassende Bürokratie die Situation kranker Menschen verbessern kann. Gesundheitspolitik, so postulierte sie, dürfe sich nicht an Kostenfragen ausrichten - um dann im folgenden zu unterstreichen, daß Kernpunkt „moderner Gesundheitspolitik“ die „Bewußtseinveränderung bei allen Beteiligten“ sein müsse. Dann brauche man sich zur Überwindung der Krise nicht nur auf „klassische Instrumente wie Geld und Recht zu stützen“. Das war den etwa 300 erschienen Ärzten einigen Applaus wert. Auf den Stellenwert, der bei dieser starken Betonung der Selbstverantwortung der Gesundheitsaufklärung zukommen muß, wies der West–Berliner Sozialsenator Ulf Fink hin. Das bedeute auch, daß finanzielle Ströme umzuleiten seien: weniger Behandlungskosten, mehr Geld für „Präventionsmaßnahmen“. Komplettiert wurde das Szenario von dem Erlanger Arbeitsmediziner Dr. med Michael Kentner, der versuchte, den Stellenwert der arbeitsbedingten, also nicht vom Einzelnen zu verantwortenden Krankheiten, herunterzuspielen. Daß Arbeit nicht krank macht, war seine, unbewiesene, Ausgangsthese. Die Zahl der Arbeitsunfälle sei schließlich stetig niedriger geworden, während immer mehr Vorsorgeuntersuchungen stattfänden. „Restrisiken“ seien freilich unvermeidbar.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen