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Geistig Behinderte zwangssterilisiert

■ Staatsanwaltschaft Berlin ermittelt gegen Ärzte und Kliniken wegen Zwangssterilisationen an geistig Behinderten ohne deren Einwilligung / Durchsuchungen und Aktenbeschlagnahmung in acht Berliner Kliniken

R. Gersson u. G. Nowakowski

Berlin (taz) - Wie erst jetzt durch Recherchen der taz bekannt wurde, ermittelt die Staatsanwaltschaft Berlin bereits seit Mitte des Jahres 1985 gegen Kliniken und Ärzte wegen des Verdachts auf „gefährliche Körperverletzung nach § 223a im Zusammenhang mit Sterilisationen an geistig Behinderten“. Das bestätigte der Berliner Justizpressesprecher Volker Kähne. Gestern berichteteten wir in unserer Berliner Lokalausgabe darüber, daß im Zuge einer staatsanwaltlichen Durchsuchung im Universitätsklinikum Steglitz mehr als 100 Patientenakten beschlagnahmt worden sein sollen. Sie stammen nach Informationen der taz aus der Abteilung für Gynäkologische Endokrinologie, Sterilität und Familienplanung von Professor Hammerstein, gleichzeitig Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe für Experimentelle Gynäkologie der Freien Universität. Der Direktor der gynäkologischen Abteilung, Profes sor Weitzel, betonte in einem Telefonat: „Ich habe damit nichts zu tun.“ Wie von der Justizpressestelle gestern zu erfahren war, hat es Durchsuchungen und die Beschlagnahme von Patientenakten in sieben weiteren Berliner Kliniken gegeben. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft richteten sich gegen „Unbekannt“. Die Staatsanwaltschaft ermittele „von Amts wegen“, erläuterte Pressesprecher Kähne, was einen begründeten Anfangsverdacht voraussetzt. Bisher habe man die Öffentlichkeit nicht informiert, um nach Möglichkeit das „Vertrauen der Bevölkerung in die Berliner Krankenhäuser nicht zu erschüttern“. Professor Weitzel meinte, daß es sich bei den Ermittlungen darum handele, daß „debile Mädchen sterilisiert worden sind“. Da das Gesetz das Einverständnis der Mädchen für einen solchen Eingriff vorschreibe, diese „aber nicht einsichtsfähig“ seien, sei es wohl zu Eingriffen ohne deren Einverständnis gekommen. Hier liege eine Gesetzeslücke vor, die geschlossen werden müsse, meinte Professor Weitzel. Eine Stellungnahme von Professor Hammerstein war gestern nicht zu erhalten. Das Thema Zwangssterilisation beschäftigte das Berliner Abgeordnetenhaus bereits im Herbst 1984. Ein Hearing im Gesundheitsausschuß blieb damals ohne ein Ergebnis. In Berlin sei kein einziger Fall von Zwangssterilisation bekannt, versicherten damals die geladenen Experten, darunter Chefärzte verschiedener psychiatrischer Kliniken und Psychiater. Fachleute berichteten allerdings ganz anderes. Fortsetzung Seite 2 Ein Mitarbeiter einer Beratungsstelle für geistig Behinderte: „Aus meiner nunmehr sechsjährigen Praxis heraus kann ich sicherlich sechs Fälle nennen, in denen minderjährige Mädchen, die eine Diagnose geistiger Behinderung aufweisen, sterilisiert worden sind. In all den mir bekannten Fällen hat weder eine Aufklärung der Mädchen stattgefunden, noch wurde ihre Einwilligung eingeholt.“ Diese Sterilisationen seien „gang und gäbe“, berichteten andere Mitarbeiter von Kranken häusern. Nicht nur in Berlin. Das Magazin „Panorama“ berichtete Ende 1984, daß in einer Hamburger Sonderschule für geistig Behinderte die Hälfte der minderjährigen Mädchen sterilisiert waren, in einer anderen ein Drittel. Dabei ist die rechtliche Situation eindeutig: „Die notwendige Einwilligung der betreffenden Person kann weder durch den Vormund noch durch einen Pfleger ersetzt werden“, heißt es in einem Aufsatz der Zeitschrift für Rechtspolitik, der im April 1984 vollständig im Deutschen Ärzteblatt nachgedruckt wurde. Dennoch können Eltern offensichtlich mit wohlwollender Un terstützung durch die Ärzte rechnen, wenn sie unerwünschten Nachwuchs ihrer geistig behinderten Kinder verhindern möchten. Was die Eltern für verantwortungsbewußt halten, ist im rechtlichen Sinne dennoch eine „schwere Körperverletzung“. Ein Gesetz, welches die Grauzone der Sterilisation beheben sollte, liegt seit 1972 beim Bundesjustizministerium in der Schublade.

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