„Statt Plutonium die Verfassung wiederaufarbeiten“

■ Europaweite Aktion Volksentscheid gegen Atomanlagen angekündigt / In Wien ging die Konferenz für Reaktor–Un–Sicherheit und Ausstieg aus der Atomenergie zuende

Aus Wien Manfred Kriener

Die mit der Strahlenwolke von Tschernobyl aus ihrem Winterschlaf gerüttelte Anti–AKW–Bewegung hat in Wien ihren ersten internationalen Kongreß nach dem Super–Gau abgewickelt. Was war geboten: Drei Tage wissenschaftliche Intensivkost, wenig Zeit für Diskussionen, ein Sit–In bei der Atommafia der IAEA, ein Heuriger–Abend, Gottesdienst und Abschluß–Demonstration. In fast 50 Referaten drängelten sich Reaktorexperten, Radiologen und Biologen, Psychologen, Werkstoffspezialisten, aber auch Theologen, Historiker, Geologen, Ärzte, Ökonomen, Umwelt– und Völkerrechtler. 200 Teilnehmer aus ganz Europa, Japan, Indien, Hongkong und Südamerika waren gekommen. Nur eines fehlte: die neue Anti–AKW–Bewegung, die Frauen– Mütter– und Verbrauchergruppen, die nach dem Super Gau so schnell wie die Cäsium– verseuchten Pilze aus dem Boden geschossen waren. Mit ihnen vermißte man auch die Power und die Wut jener Menschen, deren Alltag sich seit dem Frühsommer verändert hat, und die über das Horten von Trockenmilch–Vorräten hinaus persönliche und politische Konsequenzen aus dem „schwersten Unfall des Industriezeitalters“ ziehen wollen. Das aus der Betroffenheit von Tschernobyl geborene Treffen hatte weitgehend seminaristischen Charakter. Gefahren und Risiken der Atomenergie wurden erneut beschworen und wissenschaftlich belegt. Der spanische Teilnehmer Jose Allende war am Ende sicher nicht der einzige, der sich an ähnliche Veranstaltungen vor zehn Jahren erinnert fühlte. Tschernobyl hat die Bewegung zwar wieder aktiviert, allerdings ohne daß eine neue Qualität des Widerstandes gegen Atomanlagen sichtbar geworden ist. Der politische Teil der Tagung blieb unterentwickelt, auch die Ausstiegsdebatte wurde vorwiegend wissenschaftlich geführt, d.h. die Machbarkeit nochmals nachgewiesen. In der Strategiedebatte war der Volksentscheid noch der kraftvollste Vorschlag. Die von Gerald Häfner vehement geforderte „Rückbesinnung auf das Volk als Souverän“ soll in eine europaweite Aktion Volksentscheid münden. Österreich, das über die Zwentendorf–Abstimmung zum AKW–freien Land geworden ist, dient hier als Vorbild. Meinungsumfragen, so Häfner, ergäben eine stabile Anti–Atom–Mehrheit in fast allen Ländern. In Italien wurden bereits 1,2 Mio Unterschriften gesammelt, der Volksentscheid werde dort „definitiv stattfinden“, ebenso in der Schweiz, wo gerade eine neue Initiative vorbereitet werde. In der BRD wollen die Grünen einen Volksentscheid durchsetzen, und selbst in der DDR sind schon mehr als 1.000 Unterschriften für ein Referendum gesammelt worden. Häfner: Statt Plutonium müsse man endlich die Verfassung wiederaufarbeiten und sich aus der Rolle des Untertanen lösen. Die österreichisch–bayerischen Beziehungen dürften sich in den nächsten Monaten weiter verschlechtern: Der österreichische Bauer Ammersdorfer hat bereits vergangene Woche zivilrechtlich Unterlassungsklage gegen den WAA–Bau erhoben. Weitere Einzelpersonen und auch die Stadt Salzburg wollen ebenfalls bis in die letzte Instanz streiten. Und: „Viele österreichische Politiker wollen mitziehen.“ Klagen „gegen das deutsche Monster“ kommen auch aus Luxemburg, Dänemark, Niederlande und anderen Ländern, um so die „ungeheure Gefahr für ganz Mitteleuropa“ zum Ausdruck zu bringen. Baby–Reaktoren für den Hausgebrauch Die neurotische Zähigkeit, mit der die Atomgemeinde auch nach der Katastrophe von Tschernobyl an der „allergefährlichsten Energie“ (Kardinal Höffner) klebt, läßt sich u.a. mit einem Blick zurück in die fünfziger Jahre erklären. Der Historiker Joachim Radkau berichtete von der Euphorie jener Jahre, von einem anbrechenden Zeitalter, dem das Atom seinen Namen gab, von der „Geschichte einer mißglückten Utopie“. Die phantastischsten Dinge über den Segen der Atomkraft hätten damals in den Köpfen herumgespukt: die Urbarmachung arktischer Eiswüsten und afrikanischer Steppen, die Kultivierung der Urwälder durchs Atom, Energie im Überfluß und selbst das Ende aller Kriege. Reaktoren in kleinen Kisten sollten ganze Städte versorgen und Miniaturen von „Baby–Reaktoren“ die Wohnungen heizen. Die Atomkraft habe durch die damalige Gleichsetzung des technischen Fortschritts mit der „Steigerung der Kraft“ mit der Zusammenballung immer größerer Energien auf immer kleinerem Raum eine magische Faszination besessen. Doch die Träume sind zerplatzt, geblieben sind die AKWs als Ausdruck einer „bis heute reichenden Wirksamkeit der atomaren Utopie“. Der linke Gewerkschafter Ulrich Briefs sieht noch andere „psychologische“ Gründe für das Festhalten an der Atomenergie um je den Preis. Atomenergie sei High Tech, und High Tech sei längst ein Zauberwort, hochstilisiert zu einer vermeintlichen Globallösung für die Probleme unserer Gesellschaften. Aber High Tech bedeute immer auch High Risk. High Tech bedeute 10 - 20 Milliarden Investitionskosten für 1.600 Arbeitsplätze wie bei der geplanten WAA in Wackersdorf, und High Tech bedeute auch Arbeitslosigkeit durch neue Automationsschübe, da versucht werde, die Hochtechnologie vom menschlichen Eingreifen unabhängig zu machen. Briefs sieht in Atomkraftwerken gleichzeitig Objekte der Begierde für herumschwirrende Dollarmilliarden. Er sprach von einem „vagabundierenden Kapitalmarkt“ und „riesigen Mitteln“, die in AKWs ideale Anlagemöglichkeiten fänden. „Bahnbrechend“ nannte Briefs den DGB–Beschluß für einen Ausstieg aus der Atomenergie. Die ähnlich lautende Empfehlung des SPD–Parteitages von Nürnberg wurde dagegen von Eckhard Stratmann (Grüne/BRD) heftig angegriffen. Stratmann, der auch dafür stritt, daß ein bundesdeutscher Ausstieg nicht mit südafrikanischer Importkohle erkauft wird, sieht bei der SPD sämtliche Hintertüren weit geöffnet. Der Nürnberger Ausstiegs–Beschluß sei lediglich ein Wink in Richtung Anti– AKW–Bewegung. Nur unter der Voraussetzung eines gesellschaftlichen Konsenses wolle die SPD den bedingten Ausstieg in zehn Jahren anstreben. Und statt wirklich auszusteigen, werde sie wohl in den nächsten zehn Jahren „den Konsens suchen, den es nicht gibt“. AKW und Bombe Der Brasilianer Louis Pinguelle–Rosa ( „Ich bin Physiker, kein Anti–Nuklear–Aktivist“) skizzierte den brasilianisch–argentinischenen Wettlauf um die Atombombe, auf dem „Umweg“ über zivile Atomanlagen. In beiden Ländern spielen die Deutschen als Technologielieferanten eine Schlüsselrolle. Pinguelle–Rosa ist überzeugt, daß die Brasilianer noch in diesem Jahrzehnt die Bombe haben werden. Geschickt seien in Brasilien die Energieprognosen hochgepuscht, die riesigen Potentiale an Wasserkraft halbiert und so ein künstlicher Energiebedarf geschaffen worden, um den AKW–Import zu rechtfertigen. Inzwischen sei das deutsch–brasilianische Atomgeschäft mit ursprünglich acht geplanten AKWs zwar längst gestorben, weil unbezahlbar, aber der Brennstoffkreislauf werde ausgebaut, um ihn militärisch zu nutzen. Die brasilianische Luftwaffe habe bereits an einem unbewohnten Ort ein 320 m tiefes Loch gegraben, das in seinen Ausmaßen exakt dem amerikanischen Atomwaffen– Testgelände in Nevada entspreche. „Aber viele Menschen in Europa glauben noch immer nicht an die Entwicklung von Atombomben in Argentinien oder Brasilien, und darüber mache ich mir Sorgen.“ Immerhin: Tschernobyl hat sich auch in Brasilien positiv ausgewirkt. Der einzige laufende Reaktor sei jetzt per Gerichtsbeschluß gestoppt worden. Weil keinerlei Evakuierungspläne für den Ernstfall vorlagen, hätten lokale Richter das AKW vorläufig ausgeknipst.