piwik no script img

„Sogwirkung leerer Gefängniszellen“

■ Jugendgerichtstage in Köln eröffnet / Pillenknick kriminalisiert immer mehr Jugendliche, da Strafapparat „Auslastung“ braucht / Kriminologen fordern: besser Umwelt– und Wirtschaftskriminalität bekämpfen

Köln (ap) - Vor der Gefahr einer zunehmenden Kriminalisierung der Kinder und Jugendlichen in der Bundesrepublik als Folge des Pillenknicks hat am Montag der Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, Horst Schüler–Springorum, gewarnt. Zur Eröffnung des 20. Deutschen Jugendgerichtstages in Köln wies Springorum darauf hin, daß die Zahl der 14 bis 21jährigen in der Bundesrepublik zwar zwischen 1983 und 1994 von 7,4 Millionen auf rund 4,1 Millionen zurückgehen werde, die Zahl der Polizeibeamten, der Jugendstaatsanwälte und vor allem der Plätze in den Jugendstrafanstalten jedoch wahrscheinlich unverändert hoch bleibe. „Je intensiver aber die Kontrolldichte, um so höher treibt man die Kriminalitätsrate“, sagte Schüler–Springorum. Als Beleg dafür wies der Mitarbeiter des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeifer, auf eine Untersuchung im niedersächsischen Landkreis Lüchow–Dannenberg hin. Nachdem dort 1980 wegen der befürchteten Demonstrationen im Zusammenhang mit dem Bau der atomaren Endlagerstätte Gorleben die Polizeikräfte verdoppelt worden seien, habe sich auch die registrierte Kinder– und Jugendkriminalität mehr als verdoppelt. „Weil die Polizei wegen des Ausbleibens von Demonstrationen nicht ausgelastet war, hat die größere Polizeidichte zu einer drastischen Ausweitung der sozialen Kontrolle gegenüber den Jugendlichen und Kindern in diesem Landkreis geführt“, bewertete Pfeifer die Entwicklung. Der Hannoveraner Kriminologe wies darauf hin, daß schon heute vor allem in der Altersgruppe der 14 bis 20jährigen eine „rasante Zunahme“ der Anzeigen wegen Bagatelldelikten zu verzeichnen sei. So habe sich die Zahl der Anzeigen wegen Ladendiebstahls und anderer kleinerer Vergehen seit 1978 mehr als vervierfacht. Die Schwerkriminalität gehe dagegen zurück. Pfeifer und Springorum warnten, es bestehe die Gefahr, daß nicht ausgelastete Institutionen der Strafrechtspflege zur „Selbstrekrutierung der Klienten“ übergingen. Es sei unverantwortlich, daß einzelne Bundesländer noch über den Ausbau von Haftplätzen für Jugendliche nachdächten, kritisierte Peifer. Angesichts der „Sogwirkung leerer Haftzellen“ sei zu befürchten, daß sich die Maßstäbe dafür änderten, was mit Freiheitsentzug zu bestrafen sei. Pfeifer und Springorum forderten deshalb einen Abbau der Planstellen für Jugendstaatsanwälte und Jugendrichter zugunsten der Verfolgung von Umwelt– und Wirtschaftskriminalität. Bundesjustizminister Hans Engelhard kündigte in einem Referat auf der Eröffnungsveranstaltung Änderungen des Jugendgerichtsgesetzes an. Engelhard betonte, vor allem wolle er die Möglichkeiten der Strafaussetzung zur Bewährung für Jugendliche ausdehnen. „Die Reform des Jugendstrafrechts ist notwendig und darf nicht am Geld scheitern,“ betonte der Minister. Auf dem Jugendgerichtstag, der alle drei Jahre stattfindet, wollen sich bis Freitag rund 600 Fachleute aus der Jugendgerichtshilfe, darunter Jugendrichter, Jugendstaatsanwälte, Polizeibeamte und Sozialpädagogen, in zahlreichen Arbeitskreisen mit Fragen der Jugendgerichtshilfe befassen.

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen