: Tee–Sieb gegen Super–GAU
Berlin (taz) - Als erstes europäisches Land nimmt die Bundesrepublik, gerade fünf Monate nach Tschernobyl, ein neues Atomkraftwerk in Betrieb. Aber keine Angst: Das AKW Brokdorf ist „der sicherste Reaktor der Welt“. Das jedenfalls diktierte Ministerpräsident Barschel vergangene Woche den versammelten Journalisten in die Notizbücher. Nach der Reaktorkatastrophe in der Ukraine hatte Barschel die Genehmigung für das AKW in der 750–Einwohner–Gemeinde der Wilstermarsch zunächst ausgesetzt, um dann zwei Monate später ein neues Sicherheitssystem aus dem Hut zu zaubern: ein sogenanntes Druckentlastungssystem, das bei einer Kernschmelze, also jenem Fall, der laut Barschel ohnehin niemals eintreten wird, für schnelle Abhilfe sorgen soll. Barschel und seine bundesdeutschen Sicherheitsphilosophen wissen nicht nur, daß es niemals einen Super–GAU geben wird, sie wissen auch, wie er genau ablaufen wird. Barschels Vorstellungen: Der Reaktorkern schmilzt, die radioaktiven Gase und Partikel dringen aus dem Druckbehälter in den Sicherheitsbehälter, wo der Druck allmählich ansteigt. Doch nun wird innerhalb von 24 Stunden von außen an einen der Ablaßstutzen eine Rohrleitung gelegt. Dann wird das Ventil geöffnet, Dampf abgelassen, der Überdruck ausgeglichen. Die radioaktiven Teilchen haben sich zwischenzeitlich brav am Boden und an den Wänden des Sicherheitsbehälters abgesetzt. Falls doch noch gasförmige radioaktive Substanzen in der Luft herumwirbeln, werden sie zwar ebenfalls abgelassen, aber durch ein spezielles Filtersystem für die Umwelt zurückgehalten. Der Super–GAU wäre vermieden, das radioaktive Inventar müßte bis auf einen Rest, der im Filter hängt, dann nur noch im Sicherheitsbehälter „aufgefegt“ werden. Daß die Realität eine andere ist, weiß jeder Physik–Student im ersten Semester. Zunächst: Nur bei 1–5 % aller theoretischen Kernschmelzen kann mit einem langsamen und damit kontrollierbaren Druckanstieg gerechnet werden. Bei allen explosionsartigen Unfallverläufen wie in Tschernobyl, bei Wasserstoff– und Dampfexplosionen, bei Beschädigungen des Sicherheitsbehälters durch herumfliegende Brocken, bei schnellen Hochdruck–Kernschmelzen bliebe Barschels Super–GAU–Schutz völlig wirkungslos, schon allein weil er erst in 24 Stunden montiert wäre. Auch im Falle eines Flugzeugabsturzes oder eines schweren Erdbebens käme jede Schutzmaßnahme zu spät, erst recht ein nachträgliches „Druckablassen“. Doch selbst wenn sich der Super–GAU pflichtgetreu an das Drehbuch der Kieler Landesregierung halten würde, das neue Schutzsystem wäre auch dann weitgehend wirkungslos. Denn entgegen den Behauptungen der Sicherheitsexperten, werden sich die radioaktiven Teile keineswegs im Sicherheitsbehälter ablagern. Das setzt nämlich voraus, daß sich das gasförmige Jod mit Cäsium oder anderen Stoffen verbindet, wovon, nach den Lehren von Tschernobyl, nicht die Rede sein kann. Die radioaktiven Teilchen werden also beim „Druckausgleich“ mit abgelassen. Die Filtersysteme aber sind viel zu klein dimensioniert, um die radioaktive Abluft wirklich reinigen zu können. Fazit: Das hochgepriesene Zusatz–Sicherheitssystem ist reine Augenwischerei. Brokdorf wäre demnach nicht sicherer als jedes andere deutsche AKW. Aber tatsächlich hält der neue Atommeiler nicht einmal diesen Sicherheitsstandard ein. Denn Brokdorf gehört zu den modernen AKWs der 80er–Generation, die gegenüber früheren Reaktoren bereits sicherheitstechnisch abgemagert wurden. Wichtigster Punkt: Brokdorf ist nicht mehr gegen den sogenannten „einfachen“ GAU (Abriß der Rohrleitungen) ausgelegt. Fangseile, Schutzwände, zusätzliche Verankerungen und Stoßdämpfer, die die gerissene und unter extrem hohem Druck stehende Rohrleitung und das mit 150 bar herausschießende Wasser abfangen könnten, gibt es im „sichersten AKW der Welt“ nicht mehr. Sie wurden lange vor Tschernobyl der Wirtschaftlichkeit geopfert. Manfred Kriener
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen