Island: Wo der Gipfel zum Hügel wird

■ Seit Jahren stocken die Verhandlungen zwischen den Supermächten / In Island wird rüstungspolitisch nichts Neues erwartet / Ein Happening - auch ein Ereignis?

Von Florian Bohnsack

Alle zwölf vorhergehenden Gipfeltreffen wurden Monate vorher vorbereitet und minutiös geplant. Beim dreizehnten geht plötzlich alles auch ohne. Hals über Kopf verabreden sich die beiden Spitzenpolitiker aus USA und UdSSR zum „Treffen“ in Reykjavik, nachdem sie und ihre Kollegen Politiker mit Agentengeschichten die Krisenstimmung in der Welt aufgeputscht hatten. Fast ist diese Leichtfertigkeit mit den Ereignissen und dem politischen Klima von 1914 zu vergleichen, wenn da nicht dieses Gipfeltreffen wäre, an das inzwischen hohe Erwartungen geknüpft werden. Reagan und Gorbatschow wollen - so die Verlautbarungen - Bewegung in die Abrüstungsdiskussionen bringen, in denen bislang die Diplomaten über die grünen Konferenztische hinweg keine Ergebnisse erzielt haben. Am lebendigsten gestaltet sich noch die Konferenz für Abrüstung und Vertrauensbildung in Europa (KVAE). Die KVAE–Vereinbarungen enthalten wenigstens eine wesentliche Neuerung: In Zukunft, so sieht es der Vertrag vor, sollen sich die Militärs gegenseitig in die Sandkästen gucken dürfen, sogar aus der Luft. Und größere Manöver mit 40.000 Soldaten müssen ein Jahr vorher angekündigt werden, ganz große mit 75.000 Soldaten sogar zwei Jahre früher. Ob dieser Durchbruch bei Verhandlungen, mit dem zum ersten Mal seit den SALT–Verträgen ein militärisches Abkommen zwischen den Supermächten verabschiedet wurde, allerdings für den Gipfel ausschlaggebend ist, bleibt fraglich. Bei den übrigen Konferenzen in Bern, Ottawa und Budapest bekamen die Verhandlungspartner nicht einmal ein Abschlußdokument zustande. Dabei ging es um menschliche Erleichterungen, Wirtschaft und Kultur. Auch bei den Vernichtungsmathematikern, denen, die über Jahre hinweg Raketen wie Erbsen zählen, hat sich in letzter Zeit nur in einem Bereich etwas bewegt, der allerdings einen geringen militärischen Wert hat. Die Mittelstreckenraketen, um die sich in den letzten Jahren scharfe Auseinandersetzungen entwickelt hatten, sind für die Rüstungsstrategen uninteressant geworden. Militärisch bedeutungslos sind sie, weil auf sowjetischer Seite die Ziele der SS 20 schon immer auch durch andere sowjetische Atomwaffen abgedeckt werden konnten. Entweder durch Interkontinentalraketen oder durch U–Boot gestützte Raketen. Ähnlich bedrohten die US–amerikanischen Langstreckenbomber, U– Boote und Langstreckenraketen schon immer Ziele, die nun von Cruise Missiles und Pershing II angreifbar sind. Während der heißen Phase der Auseinandersetzung zwischen Friedensbewegungen und Regierungen zwischen Ost und West warfen sich letztere gegenseitig politische Nötigung vor. Die politische Rolle haben die Mittelstreckenraketen aber nun verloren. Nach heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen haben alle NATO–Staaten Mittelstreckenraketen stationiert, Moskaus Gegendruck hatte keinen Erfolg. Die westeuropäischen Regierungen konnten den USA ihre Bündnistreue beweisen, kurz bevor der Rogersplan und das Air– Land–Battle Konzept die Mittelstreckenraketen überflüssig machten. Entsprechend haben sich auch die Verhandlungspositionen der Supermächte verändert. Als 1982 die Entscheidung über Cruise Missiles und Pershing II in Europa anstanden, forderten die USA ihre „Null–Lösung“. Sie wollten auf ihre Mittelstreckenwaffen in Europa verzichten, wenn die UdSSR ihre SS 20 in Europa und in Asien wieder abbauen würden. Die Sowjets hielten dagegen. Auf 450 Sprengköpfe, verteilt auf 150 SS 20, wollten sie ihre Mittelstreckensysteme verringern, wenn die NATO auf ihre Aufrüstung verzichten würde. Im Juli 1982 waren sich die Chefunterhändler beider Staaten, Paul Nitze und Julij Kwizinski, beim „Waldspaziergang“ einig: Moskau sollte 75 SS 20 mit je drei Atomsprengköpfen behalten dürfen, während der USA 300 Marschflugkörper zugestanden wurden. Daraus wurde nichts, weil sich in beiden Staaten die Falken durchsetzen konnten. Erst vor einem Jahr kamen sich die Vorstel lungen wieder näher. Die Sowjetunion wollte die Pershing II noch immer völlig aus Europa verbannt sehen und 120 Cruise Missiles zulassen, ihre eigenen Sprengköpfe aber so weit reduzieren, daß sie mit den britischen, französischen und amerikanischen Sprengköpfen in Europa gleichzusetzen waren. Diese Einbeziehung ihrer Verbündeten lehnten die USA aber ab und boten den Sowjets für den bilateralen Vergleich je 420 Sprengköpfe in Europa an, wobei die UdSSR sich hätte verpflichten müssen, in Asien SS 20 abzubauen. Was jetzt auf dem Verhandlungstisch liegt, die Idee, daß jede Seite in Europa nur noch 100 Sprengköpfe behält und im asiatischen Teil der UdSSR und in den USA je weitere 100, ist zwar die weitestgehende, doch auch noch nicht sichere Verhandlungsgrundlage. In Moskau ist man von dem Gedanken noch nicht völlig weggekommen, die französischen und britischen Atomraketen mitzuzählen. Dieser Verzicht solle nur bei einer, allerdings nicht mehr zur Diskussion stehenden Null–Lösung bei den Mittelstreckenwaffen in Europa möglich sein, hieß es letzte Woche in Moskau. In allen anderen Bereichen verhandeln die beiden Supermächte seit Jahren ohne greifbare Ergebnisse. Insbesondere bei den für die USA wesentlichen Gesprächen über eine Begrenzung der strategischen Waffen in Genf geht es kaum weiter. Vor einem Jahr waren sich die Positionen weit näher als heute. Damals sollte jede Seite maximal 6.000 Sprengköpfe für Langstreckenraketen und Cruise Missiles sowie Langstreckenbomber haben dürfen, über deren Verteilung auf Interkontinentalraketen sich die Diplomaten zwischen 3.000 und 3.600 Atomsprengköpfen stritten. Heute wollen die USA über 7.500 Sprengköpfe für Langstreckenraketen und auf Flugzeugen stationierte Cruise Missiles verfügen, 3.300 davon auf die Interkontinentalraketen verteilen und dazu beliebig viel Cruise Missiles auf ihren Schiffen unterbringen dürfen. Die Sowjets wollen gar 8.000 Atomsprengköpfe maximal zulassen, worin die seegestützten Cruise Missiles eingeschlossen sein sollen. Als Höchstgrenze für die Sprengköpfe auf Interkontinentalraketen schlagen sie nun 4.800 Stück vor. Darüber hinaus ist eine Vereinbarung in diesem Bereich an SDI und den Vertrag über Raketenabwehrsysteme (ABM–Vertrag) gekoppelt, dessen weitere Einhaltung über 15 Jahre für die Sowjets Voraussetzung für alle Verhandlungen im Bereich der strategischen Massenvernichtungsmittel ist. Ex–Chefunterhändler Warnke sieht selbst der Reduzierung der derzeit 10.000 bis 12.000 Atomsprengköpfe in jedem Land auf das vorgeschlagene Maß skeptisch entgegen. In anderen Bereichen bewegt sich gar so wenig, daß sie aus der täglichen Berichterstattung herausgefallen sind. So wird ebenfalls in Genf seit Jahrzehnten ohne Ergebnis über chemische Waffen verhandelt. In Wien wird seit mehr als 13 Jahren darüber verhandelt, ob und wie auf beiden Seiten Truppen reduziert werden können. Wie bei den Diskussionen über chemische Waffen ist das wesentliche Hindernis für jede Vereinbarung deren Überprüfbarkeit. Weder Regierungen noch Konzerne in West und Ost wollen sich in ihre Chemieküchen schauen lassen, weil das in vielen Augen der Wirtschaftsspionage alle Türen öffnet. In Wien wird man sich nicht einig, an welcher Straße die Kontrollposten aufgestellt werden sollen, an denen die jeweils 5.000 bis 10.000 zum Rückzug vorgesehenen Soldaten zum Nachzählen vorbeiziehen sollen. Vielleicht finden die obersten Herren ja in dieser Frage einen Ausweg. Wahrscheinlich ist es nicht.