: Furcht vor der Null–Lösung
Bonn (taz) - Eine Woche nach dem Gipfel können die zuständigen Männer der Bundesregierung der Tatsache, daß dort wiederum nichts erreicht worden ist, zunehmend positive Seiten abgewinnen. Die einen, allen voran Außenminister Genscher, tun so, als ginge es nur noch darum, aus den „vielversprechenden“ Annäherungen von Reykjavik am Genfer Verhandlungstisch ein Abkommen zu zimmern. „Die amerikanischen und sowjetischen Vorschläge und Positionen bleiben auf dem Tisch“, ließ Bundeskanzler Kohl trotzig wie ein kleiner Junge verbreiten, „sie werden in den Genfer Verhandlungen weiter verhandelt werden.“ Und: „Die Chance, auf dieser Grundlage zu konkreten Vereinbarungen zu gelangen, bleibt gegeben.“ Schadensbegrenzung und Zweckoptimismus ist die Devise; schließlich ist die Bundesregierung nicht nur wegen der anstehenden Bundestagswahlen auf Verhandlungsergebnisse angewiesen: Die Skepsis gegenüber diesem Politikmuster sitzt tief; die Enttäuschung darüber, daß die Ära der Rüstungskontrolle umfassende Aufrüstung brachte, ist eine Antriebskraft der Friedensbewegung gewesen, und Gipfel wie diese nagen weiter am Legitimationsverlust von Verhandlungen. Gleichzeitig wird Kohl, der heute mit Außenminister Genscher, Rüstungsminister Wörner und dem CDU–Politiker Rühe zu einer Erkundungsreise in die USA aufbricht, den US–Präsidenten für sein demonstratives Festhalten am SDI–Projekt nicht kritisieren. Der Schulterschluß mit dem großen Bruder funktioniert wie gehabt. „Unsere Haltung zu SDI ist unverändert. Die Bundesregierung hält das Forschungsprogramm nach wie vor für gerechtfertigt“, ließ Bundeskanzler Kohl gleich zu Beginn der Woche verlauten. Anders als vor ein paar Monaten, als Reagan bekannt gab, er wolle sich nicht mehr an SALT–II halten, hat es vom gemäßigten CDU–Flügel und dem Außenministerium bisher keine Signale gegeben, wonach die alten Konflikte um die SDI–Abmachung wiederaufleben könnten. Die zunehmend positive Bewertung, die das Scheitern des Gipfels in der Bundesregierung und CDU–Fraktion erfährt, besitzt jedoch noch einen ganz anderen Hintergrund. Ein gewichtiger Teil der CDU und der Militärs fürchtet eine Null–Lösung bei den Mittelstreckenwaffen in Europa wie der Teufel das Weihwasser. Die Pershing–II und Cruise Missiles galten und gelten für sie als militärisch notwendige Waffensysteme, um die BRD wieder stärker an den amerikanischen Atomschirm zu koppeln und damit die Abschreckung zu stärken. Die Bedeutung dieser Waffen wird darin gesehen, daß sie von Westeuropa aus die UdSSR erreichen können und so die UdSSR nicht nur zu einem Gegenschlag auf Westeuropa, sondern auch auf die USA zwingen. Westeuropa und die USA sollen damit in einer politischen Krise in einer Art „Risikogemeinschaft“ verbunden sein. In der Logik dieser Militärstrategen würde eine Beseitigung dieser Waffen das zunichte machen und damit die Abschreckung schwächen. Für die UdSSR würde dann „das mit einem regionalen Konflikt in Europa verbundene Risiko erheblich verringert und der Spielraum zumindest für die politische Nutzung der eigenen Militärmacht erheblich vergrößert“, polemisierte u.a. FAZ– Militärexperte Feldmeyer im Rahmen einer wahren Kampagne gegen die „gefährliche Null–Lösung“. Und die CDU–Politiker Dregger und Todenhöfer forderten dreist, die Vorbedingung für ein Abkommen über Mittelstreckenwaffen müßten Verhandlungen oder gar Vereinbarungen über eine Begrenzung von Atomraketen kürzerer Reichweite in Europa sein. Selbst Kohl entschied Anfang Oktober dagegen, um, wie es hieß, die Verhandlungen nicht zu „befrachten“ und ein Abkommen nicht zu erschweren. Und aus Sorge, die USA könnten tatsächlch einmal einer solchen Null–Null–Lösung zustimmen, hat der ranghöchste deutsche General bei der NATO, Mack, sich jetzt förmlich bei US–Verteidigungsminister Weinberger beschwert, vor und nach Reykjavik unzureichend unterrichtet worden zu sein. Daß dieser Vorschlag nicht verhandelbar war, wußten die USA und die NATO bereits seit 1981. Er wurde ins Spiel gebracht, gerade weil der neue sowjetische Generalsekretär Gorbatschow für manchen Sicherheitsstrategen hierzulande eine geradezu bedrohliche Beweglichkeit signalisierte. Und so wird Kohl dem US– Präsidenten wohl auch nahebringen, daß die nach außen hin als „beachtlich“ gelobte „Annäherung“ in Sachen Entnuklearisierung eben Grenzen hat, weil dadurch deutsche Sicherheitsinteressen verletzt werden könnten. Einer Abmachung im Sinne einer Null–Lösung wollen die deutschen Konservativen zwar nicht widersprechen. Doch „problematisch“ werde es dann, so zitiert die FAZ am Samstag Kohls außenpolitischen Sprecher Teltschik, wenn gleichzeitig die strategischen Waffen weggenommen und die Atomraketen kürzester Reichweite (unter 1.000 km) in der BRD nicht auf das sowjetische Niveau bis zu einer gleichen Obergrenze aufgestockt würden. Sollen also wiederum Bedingungen an eine Mittelstreckenwaffen–Vereinbarung geknüpft werden? Außerdem: 72 Pershing I–Raketen der Bundeswehr werden gerade „modernisiert“. Wird bald von höheren Zahlen die Rede sein? Oder werden die Pershing II–Raketen dann einfach auf eine nur rund 1.000 km reichende Pershing II RR (Reduced Range) umgerüstet? Ursel Sieber
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