Gefangene wegen Überfüllung entlassen

■ Seit gestern ist die Strafvollzugsreform in Italien in Kraft / 3.500 Häftlinge sind bereits in Freiheit / Auswahlkriterien noch unklar / Lebenslängliche Haftstrafen werden abgeschafft / Umfangreiche Sondervergünstigungen auch für politische Gefangene

Aus Rom Werner Raith

Wenn die Italiener Reformen machen, dann spektakuläre. Am 3. November ist eine Strafvollzugsreform in Kraft getreten, die sozusagen in „einem Wurf“ vieles hinter sich läßt, was andere Länder erst diskutieren. So können z.B. seit heute alle rechtskräftig verurteilten Häftlinge bereits von Anfang an jährlich zwischen 15 und 45 Tage Hafturlaub erhalten. Bei „entsprechender Führung“ gibt es auch ein „Skonto“ von 90 Tagen pro Jahr auf die Gesamtstrafe; unmittelbare Konsequenz des auch rückwirkend anwendbaren Gesetzes ist die Freilassung von mehr als 3.500 Gefangenen. Spektakulär auch die Reduzierung von „Lebenslänglich“ auf künftig nur 21 Jahre real abzusitzende Strafe, mit der Chance, schon nach 16 Jahren die sogenannte „semiliberta“, die Halbfreiheit, zu erreichen. Lebenslange Häftlinge können dann den gesamten Tag außerhalb des Gefängnisses verbringen. Von der neuen Regelung können bereits zahlreiche „prominente“ Lebenslängliche profitieruen, etwa Renato Curcio, „historischer Gründer“ der Roten Brigaden, Graziano Messina, bereits legendärer Entführerbandenboss aus Sardinien, Pietro Cavallero, in den 70er Jahren berühmtester Räuberhauptmann der Stadtgangster. Daß im Zuge der Reform auch mehrere hundert Mafiosi, korrupte Beamte und Wirtschaftsverbrecher freigelassen werden, hat freilich in Italien auch heftige Polemik ausgelöst - der Verdacht kam auf, daß die Reform eigentlich ihnen galt, weniger den Angehörigen politischer Gruppen oder auch einfachen Dieben und Automatenknackern. Die römischen Poltiker beeilen sich daher zu betonen, daß es „keinen Automatismus bei den Freilassungen gibt. Doch auch das hat Angriffspunkte geschaffen, insbesondere da das Gesetz keine genauen Kriterien für die „entsprechende Führung“ des Häftlings gibt, aufgrund derer er dann in den Genuß der Reformen kommt. Mi litante Sträflingsgruppen (wie die „irriducibili“, die „Unverbesserlichen“ des „Bewaffneten Kampfes“) sehen sowieso in der „Karotte, die den Eseln da vor die Nase gehalten wird, nichts anderes als den Versuch, die Häftlinge vom Rebellieren gegen die unmenschlichen Verhältnisse in den italienischen Zuchthäusern abzuhalten“. Daß die Reform auch den Hintersinn hat, die überfüllten Gefängnisse zu leeren (derzeit sitzen mehr als 45.000 Personen in Knästen, die für nicht mehr als 30.000 reichen), leugnen auch die verantwortlichen Politiker nicht. Im Geist des liberalen liberalen Strafrechtstheoretikers Cesare Beccaria handele es sich darum, „diejenigen zu entlassen, von denen am wenigsten weitere soziale Gefahr ausgeht“. Der Reformer Cesare Beccaria aus dem 18. Jahrhundert, auf dessen Geist sich die heutigen Reformer berufen, wäre mit dem Begriff „soziale Gefahr“ freilich kaum einverstanden: In seinem Buch „Dei delitti e delle pene“ sah er umgekehrt „die Sozietät als Gefahr für den Einzelmenschen“ an. Es wird wohl noch einige Monate dauern, bis sich herausstellt, welchen Sinn die Behörden in die neuen Chancen für die Häftlinge hineinlegen“.