Neuss: Mitgefühl mit „Verfolgten“

■ Nach den Korschenbroicher antisemitischen Ausfällen schlägt der Bürgermeister von Neuss in die gleiche Kerbe / Im Rathaus wird das rechte Auge öfter zugedrückt

Von Jakob Sonnenschein

„Entscheidend ist für mich, daß es nicht wenige Menschen gab, die nur mit Verbitterung erlebten, wie ein ansonsten hoch angesehener und korrekter Mann bis in die Familie hinein verfolgt wurde. Damit haben sich die jüdischen Repräsentanten, die glaubten, hier ein Exempel statuieren zu können, was sie an anderer Stelle nicht taten, keinen Gefallen erwiesen...Auch in Zukunft werden Pannen und unglückliche Äußerungen nicht zu vermeiden sein. Die Hauptsache ist, daß die Versöhnung zwischen Deutschen und Juden keine Beeinträchtigung mehr erfährt“. Diese Sätze fielen am 7. November während einer Gedenkveranstaltung zur sog. „Reichskristallnacht“, an der Gedenkstätte der von den Nazis niedergebrannten Neusser Synagoge. Ausgerechnet hier beklagte das Neusser Stadtoberhaupt Hermann– Wilhelm Thywissen die „Verfolgung“ des Grafen von Spee, der wegen seiner Äußerung - für den Ausgleich des städtischen Haushalts „müßten schon einige reiche Juden erschlagen“ werden - Anfang des Jahres als Bürgermeister der Stadt Korschenbroich zurückgetreten war. Damals hatten Hunderte von Korschenbroicher Bürgern in dumpfer Geschichtslosig keit ihrem Stadtoberhaupt zugejubelt. Solch schamloses Schauspiel wiederholte sich am Montagabend im Neusser Rathaus allerdings nicht. Die aufgrund des Faux–pas ihres Bürgermeisters Thywiesen von den Sozialdemokraten und Grünen beantragte Sondersitzung des Rates geriet eher zu einem historischen Seminar und war zuallererst von dem Bemühen geprägt, den Schaden für die heimatliche Stadt zu begrenzen. Nur die Grünen forderten den Rücktritt von Thywissen. Der Erklärung des Bürgermeisters, der „Mißverständnisse bedauerte“ und sich „entschuldigte“, konnten die Sozialdemokraten zwar „nicht zustimmen“, der Rücktrittsforderung, auch von der Düsseldorfer jüdischen Gemeinde erhoben, mochten sie sich aber dann doch nicht anschließen. „Wir schätzen“, so der SPD– Fraktionsvorsitzende Hermann J. Bolten, die „Bemühungen von Herrn Thywissen, sich zu entschuldigen, sehr hoch ein“. Gleichzeitig empfahl Bolten dem Bürgermeister aber, „in sich zu gehen“, ob es nicht besser, sei „im Interesse aller persönliche Konsequenzen zu ziehen“. Stefan Rohrbacher, der über die Geschichte und die Schicksale der Neusser Juden erst in diesem Jahr ein Buch veröffentlicht hat, schätzt die Bemühungen des Bürgermeisters dagegen ganz anders ein. In seinem offenen Brief heißt es u.a.: Sie haben die unglaubliche Geschmacklosigkeit besessen...der Vergangenheitsbewältigung auf dem Wege des Vergessens und Vertuschens das Wort zu reden und die „jüdischen Repräsentanten“ zu artigerem Stillhalten zu ermahnen...“. Für diese Form der Vergangenheitsbewältigung lassen sich in Neuss eine Vielzahl von Belegen finden. Der Ratsherr Heinz Monitor (Grüne) erinnerte daran, daß über den Antrag der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes aus dem Jahre 1948, Straßennamen nach Neusser Widerstandskämpfern zu benennen, bis heute nicht entschieden wurde. Und erst im August dieses Jahres kam heraus, daß ein aktives NPD–Mitglied beauftragt war, mit finanzieller Unterstützung der Stadt über die nationalsozialistische Herrschaftsperiode in Neuss ein Buch zu schreiben. Manfred Müller, der zeitweise auch dem Landesvorstand der NPD angehörte, sollte das Buch herausbringen. Vorsitzender des Vereins ist der CDU–Ratsherr Peter Stenmans, dem die NPD–Aktivitäten von Müller bekannt waren, der aber gleichwohl keine Bedenken hatte. Erst die lokalen Presseveröffentlichungen bewirkten, daß der Heimatverein auf die Herausgabe des Buches verzichtete. Während Müllers Schrift der Öffentlichkeit vorerst erspart blieb, offenbarte Bürgermeister Thywissen in seiner Gedenkrede seine Lesart der deutschen Geschichte. Demnach ging „Hitlers Rechnung auf“, weil die „alles übertönende Propaganda“, die „weite Kreise des Volkes täuschen, ablenken, verwirren und unsicher machen konnte“ so „geschickt eingefädelt war“. SPD– Ratsherr Dr. Kissenkoetter, Zahnarzt und Historiker, bezeichnete daraufhin diese Formulierungen am Montag als „weit verbreitetes Geschichtsklischee“. Jeder Deutsche habe von der Verfolgung der Juden gewußt. Es sei historische Wahrheit, daß die Mehrheit der Deutschen schon 1930 „antiparlamentarisch gewählt“ habe und von der Sehnsucht nach dem „starken Mann“ geprägt gewesen sei. Dr. Kissenkoetter wörtlich: „So waren Hitlers antisemitische Tiraden bei seinen potentiellen Wählern nicht etwa abschreckend, sondern vielmer sehr wahlwirksam“. Betretenes Schweigen im Ratssaal. Aber wieviele mögen im Stillen den „Vaterlandsverräter“, den „Nestbeschmutzer“ verwünscht haben? Von den 227 am 30.1.1933 gemeldeten Neusser Juden sind 179 dem Nazi–Terror zum Opfer gefallen.