: Puritanische Probleme mit Safer Sex
■ In Großbritannien begleiten moralische Hindernisse die Aids–Kampagne der Regierung Prüde Wortwahl und verspäteten Start kritisiert / Streit um landesweiten Virustest
Aus London Rolf Paasch
„Dont die of ignorance“, so lautet der Slogan der am Freitag im britischen Unterhaus vorgestellten Regierungskampagne zur Bekämpfung von Aids. Nimmt man diese Mahnung ernst, dann müßte gerade unter den 650 Parlamentariern demnächst die Seuche ausbrechen: Während Margaret Thatchers Sozialminister am Freitag nachmittag die Regierungskampagne gegen die „größte medizinische Bedrohung unserer Generation“ einläutete, verloren sich ganze 50 Abgeordnete in den langen Holzbänken der Volkskammer. Der Rest war in Ignoranz oder im Vertrauen auf die eigene Monogamie bereits ins Wochenende gegangen. Am Sonntag begann dann der Informationsfeldzug aus Zeitungsanzeigen, Flug blättern, Kino– und Fernsehspots. Den Briten soll in den nächsten Wochen klargemacht werden, daß sie ihre Sexualpraktiken gehörig verändern müssen, um nicht dem Beispiel USA zu folgen, wo in diesem Jahr bereits 25.000 Aids– Fälle registriert worden sind. Zwar liegt Großbritannien derzeit mit 548 Krankheitsfällen (noch hinter der BRD und Schweden) auf Platz 11 der Aids–Rangliste. Doch in zwei Jahren könnten es bereits 3.000 Aids–Opfer sein; und für das Ende der Dekade prophezeien einige britische Forscher rund 20.000 Opfer der tückischen Seuche bei dann insgesamt 1 Mio. Virusträgern. Mit reichlicher Ver spätung, so Kritiker, habe jetzt selbst die Regierung eingesehen, daß die Verbannung der Krankheit in die Welt der Homosexualität angesichts der jüngsten Zahlen nicht länger haltbar sei. „Zu wenig und zu spät“, lautete dann auch die Reaktion eines Oppositionssprechers, der mindestens 100 Mio. Pfund (300 Mio. DM) für Vorbeugung und eine bessere Behandlung von Aids–Patienten forderte. Zwar sind sich selbst die Konservativen über die Notwendigkeit einer Kampagne einig. Aber über die Frage des „Wie“ der Volkserziehung formierten sich bald verschiedene linguistische Lager. Eine für Joe Normalbürger verständliche Sprache verletzt die viktorianischen Werte des konservativen Establishments; und was für die Lady in gutbürgerlichen Turnbridge Wells noch akzeptabel ist, muß umgekehrt einem arbeitslosen Teenager in Newcastle unverständlich bleiben. Während ein Labour–Abgeordneter zum Beispiel lieber von „Arschlöchern“ als von „analem Geschlechtsverkehr“ hören wollte, schlug ein konservativer Kollege vor, jede Kondom–Packung im Stil der Zigarettenwerbung mit der Aufschrift: „Promiskuität tötet“ zu versehen. Einigen im konservativen Lager schien es bei der Kampagne mehr um in ihrer Prüderie verletzte Wähler als um potentielle Aids–Opfer zu gehen. Die von einigen Abgeordneten unterstützte „Konservative Familien– Kampagne“ hatte im Vorfeld der Aufklärungsaktion gar für das erneute Verbot von Homosexualität plädiert. Bei soviel parteiinterner Rücksichtnahme war es dann kein Wunder, daß Sozialminister Norman Fowler am Freitag zwei wichtige Entscheidungen vertagen mußte: die Versorgung von Heroinabhängigen mit sauberen Nadeln, sowie die gebührenfreie Verteilung von Präservativen durch die Ärzte des staatlichen Gesundheitsdienstes. Auch die kommerzielle Fernsehwerbung für die hierzulande als „french letters“ bezeichneten Verhüterli bleibt weiterhin untersagt. Wie die Regierung den abzusehenden Konflikt zwischen der Bekämpfung von Aids und der Aufrechterhaltung bürgerlicher Freiheiten bewältigen will, ist nicht nur den zahlreichen Aids–Unterstützergruppen schleierhaft. Während Organisationen wie der „Terrence Higgins Trust“ oder „Body Positive“ gegen jegliche Form von Virus–Tests sind, befürworten einer Umfrage des „Observer“ zufolge bereits 2/3 aller Briten einen Aids–Test für die gesamte Bevölkerung. Ein solcher Test, so Martin Weaver vom „Higgins Trust“, werde die schon bestehenden Probleme von Homosexuellen noch vergrößern. Sie könnten keine Lebensversicherungen mehr abschließen oder Kredite aufnehmen und viele hätten nach einem positiven Test ihren Job, ihre Wohnung und ihre Freunde verloren. Es ist also nicht nur die Ignoranz der Sexualpartner, die Aids in Großbritannien weiter fortschreiten läßt, sondern auch die vierjährige! Ignoranz der Regierenden.
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