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„Berlin war immer ein schwieriges Pflaster“

■ Prozeß vor der Berliner Staatschutzkammer gegen drei Gründer und Mitglieder der 1983 verbotenen rechtsradikalen ANS/NA / Umfangreiches Beweismaterial über Aktivitäten liegt vor / Michael Kühnen als Zeuge geladen

Aus Berlin Plutonia Plarre

Im Prozeß gegen drei Männer im Alter von 24 bis 47 Jahren, die sich derzeit vor der Berliner Staatsschutzkammer wegen Gründung und Mitgliedschaft in der verbotenen rechtsradikalen Organisation Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten (ANS/NA) verantworten müssen, wurde gestern der Organisationsgründer Michael Kühnen als Zeuge aus der JVA Butzbach vorgeführt. Die von Kühnen 1977 in der Bundesrepublik aufgestellte ANS war 1983 vom Bundesinnenministerium verboten worden; der im März 1983 gegründete Berliner Ableger fiel von Beginn an unter das Verbot der Proklamation des alliierten Kontrollrats von 1945. Aufmerksam geworden war der Berliner Staatsschutz auf die Gruppe jedoch erst im Oktober 83, kurz vor einem Fußballänderspiel Bundesrepublik gegen TÜrkei im Berliner Olympiastadion. Der Fund von Flugblättern, in denen rechtsradikale Organisationen von mutmaßlichen Berliner ANS–Mitgliedern zum Fußballspiel geladen wurden, hatte 43 Hausdurchsuchungen zur Folge gehabt. Es wurden zahlreiche Flugblätter, Schriften und Broschüren zum Selbstverständnis der ANS - „Rassenstolz, Aufhebung des bundesweiten NSDAP– Verbotes, Ausländerrückführung“ - sowie Aufkleber und Annäher mit neonazistischen Parolen und dem ANS–Symbol beschlagnahmt. Außerdem war eine an die 50 Personen zählende Mitglieder– und Sympathisantenkartei gefunden worden sowie verschiedene Schlaginstrumente, zwei Gaspistolen und eine Anleitung zu Herstellung und Gebrauch von Sprengstoff: „Wolfsbrevier - für Umgang mit Welpen, die reißende Wölfe werden wollen“. Die späte Prozeßeröffnung Anfang November dieses Jahres wird von seiten der Staatsanwaltschaft mit der aufwendigen Auswertung des umfangreichen Beweismaterials begründet. Bereits nach wenigen Prozeßtagen war die Gruppe der ehemals fünf Angeklagten zusammengeschrumpft: Das Verfahren gegen die beiden jüngsten Männer (21 und 23 Jahre) wurde gegen 1.500 Mark Geldbuße eingestellt. Sie hatten sich durch Aussagewilligkeit angedient, ihre Beteiligung an Gruppenaktivitäten dabei bis auf ein, für den Erhalt der Glaubwürdigkeit notwendiges Minimum verharmlost. So war der Baseballschläger nur ein Schutz neben dem Bett, „falls nachts einer einbrechen will“, ein mit Tränengas gefüllter Stock nur „zur Selbstverteidigung“. Der Staatsanwalt, der sich für die Einstellung des Verfahrens aussprach, vermerkte po sitiv, daß einer der Angeklagten jetzt zur Bundeswehr wolle: „Man muß ihm die Möglichkeit geben, diesem Staat zu dienen.“ Die verbleibenden drei Angeklagten schwiegen sich weiterhin beharrlich aus. Der mutmaßliche Kameradschaftsführer (24) soll nach Rücksprache mit dem ANS– Gründer Michael Kühnen im Frühjahr 83 eigens aus Hannover angereist sein, um Mitglieder für den „Gau Groß–Berlin“ zu rekrutieren. Beschlagnahmten Briefen zufolge erstattete er Kühnen in unregelmäßigen Abständen Bericht über das Fortkommen. Auch eine Erwiderung Kühnens lag dem Gericht vor: „Über die Nachricht aus der Reichshauptstadt habe ich mich sehr gefreut, der Kampf kann nun auch in Berlin beginnen.“ Ein weiterer Angeklagter (46) soll zusammen mit dem „Kameradschaftsführer“ die Organisation als Propagandachef nach außen vertreten haben. Beide waren vor dem Fußballänderspiel im ARD– Panorama offensiv rassistisch aufgetreten. Der dritte Angeklagte (47) hatte mit seiner Telefonnummer auf einem der Pamphlete als Kontaktadresse fungiert. Er war bereits 1979 wegen Neugründung der NSDAP zu 18 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden, die er zum Teil verbüßte. Daß es während des Spiels wegen großer Sicherungsmaßnahmen nicht zur „geplanten Schlacht“ gekommen war, wurde in einem später gefundenen „Frontbericht“ eines ANS–Mitglieds bedauert. Gestern nun trat der Anfang 1985 wegen Herstellung und Verbreitung neonazistischen Propagandamaterials zu drei Jahren und vier Monaten verurteilte Michael Kühnen in den Zeugenstand. Er sei bereit, sich zur allgemeinen Zielsetzung der ANS vor dem erlassenen Verbot zu äußern, bezüglich späterer Aktivitäten müsse er aber sein Aussageverweigerungsrecht in Anspruch nehmen: Habe er doch Ende Februar selbst noch einen Prozeß in Hamburg wegen Fortführung einer verbotenen Organisation. „Berlin ist immer ein sehr schwieriges Pflaster für uns gewesen, wegen der Insellage“, bemerkte Kühnen, der die drei Angeklagten, wenn auch nicht sonderlich gut, gekannt haben will, eloquent. Inwieweit er die Gründung der hiesigen Kameradschaft veranlaßte, wollte er ebensowenig sagen, wie auch, ob er Einfluß auf deren Aktivitäten genommen habe. Nach dem Verbot habe er jedoch aus „Berlin so gut wie nichts mehr gehört“. Bezugnehmend auf einen taz– Artikel vom 13. Oktober dieses Jahres wurde Kühnen gefragt, ob er aus der ANS ausgetreten sei. Nein, das sei er nicht, weil die ANS nicht mehr existiere. Kühnen, der sich im Artikel gegen den Ausschluß Homosexueller aus der neonazistischen Bewegung eingesetzt hatte, erklärte: Die Meinungsverschiedenheiten in der Gesinnungsgemeinschaft „Neue Front“ hätten sich „in der Zwischenzeit weitgehend erledigt“. Kühnen verließ unter Applaus vorwiegend kurzgeschorenen Publikums den Gerichtssaal.

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