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„Denkbar schlechte Erkenntnislage“

■ 150 Mastanschläge ohne Aufklärung - Die neue Militanz und die „dirty tricks“ der Staatschutzbehörden / Bundesländer richten Sonderkommissionen „Energie“ ein / taz–serie V Teil

Von H.–G. Meyer Thompson

Der 100. Strommastenanschlag fand irgendwo in Bayern statt, wahrscheinlich kurz nach den Aktionstagen im Oktober in der Oberpfalz. Wo genau, ist nicht zu erfahren, und die, die es wissen müßten, schweigen sich aus oder täuschen Unwissenheit vor. 92 Anschläge gibt das Bundeskriminalamt für den Zeitraum von Januar bis Anfang November an. Das Bonner Innenministerium kommt für den gleichen Zeitraum schon auf 103, und das Bayerische Landeskriminalamt (LKA) zählte Mitte November bereits 116 Anschläge. Fast die Hälfte führte zum Totalschaden, also Umwurf mit gelegentlichen „Dominosteineffekt“ auf andere Masten oder Leitungen. Geschätzter Gesamtschaden: Rund 30 Millionen DM. Die Ermittlungsbilanz treibt jedem Kriminalisten die Schamröte ins Gesicht, denn kein einziger Fall wurde bisher aufgeklärt. Lediglich vier vorläufige Festnahmen konnten die Ermittlungsbehörden registrieren und die zufällige Verhaftung einer 47–jährigen Frau, die im August angeblich bei einem Mastenanschlag im Rhein– Main–Gebiet schwere Verbrennungen erlitten hat und seitdem in einer Spezialklinik liegt. Seit einer Woche ist bei ihr der Vollzug des Haftbefehls ausgesetzt und die Polizeibewachung abgerückt. Und noch immer rätseln drei Fahnder, wer hinter den Mastumwürfen der vergangenen Jahre steckte. 1981–1983 gab es durchschnittlich vier Mastanschläge pro Jahr, 1884 waren es schon 13, und 1985, als die Gruppe „Hau– weg–den–Scheiß“ bei Krümmel ihren Zehn–Millionen–Anschlag verübte, kamen noch einmal 11 hinzu. Und die Tendenz ist weiterhin steigend: „Die Prozentangaben der Steigerungsraten fallen inzwischen vierstellig aus“, errechnete das Münchner LKA. „Ermittlungsgruppe Energie“ In solchen Fällen richten Landeskriminalämter Sonderkommissionen ein. In Kiel prokelt bereits seit Juli eine Fahndungsgruppe vor sich hin, und in den vergangenen Wochen stellten auch Baden–Württemberg (“Ermittlungsgruppe Energie“), Hessen und Bayern Sonderkommissionen auf. Von der Auswertung der Sägespuren an den Maststümpfen, der Gummistiefel– und Reifenabdrücke in der Umgebung von Sabotageakten und dem Vergleich der technischen Durchführung von Anschlägen erhoffen sie sich, die „Handschrift“ der Sägekommandos kriminalistisch aufzuschlüsseln. Die zehnköpfige Münchner Sonderkommission soll die Ermittlungen im Freistaat koordinieren und ruft „insbesondere Wald– und Forstarbeiter, Jäger, Landwirte, Spaziergänger, Jogger usw.“ auf, in Feld und Wald ihr Augenmerk auf verdächtige Gestalten in der Nähe von Strommasten zu richten. Für sachdienliche Hinweise winken Belohnungen bis zu 150.000 DM. Stromerzeuger und Polizei lassen überdies zentrale Schaltstationen und Strommasten von Patrouillen in unregelmäßigen Zeitabständen überwachen. Besonders anschlagsgefährdete Masten stehen seit langem auf besonders gesicherten Betonsockeln, und seit kurzem sollen schallempfindliche Sensoren in der Erprobung sein. Doch die rund 180.000 Strommasten mit 380– oder 220–Kilovolt– Leitungen „rund um die Uhr zu schützen, ist faktisch unmöglich“, heißt es in einer Publikation des Bundesinnenministeriums. Umso tiefer greifen die Behörden in die kriminalistische Handwerkskiste: Baden–Württemberg und Bayern schalteten unlängst Telefonanschlüsse, die für anonyme Hinweise zur Verfügung stehen. Aber die Bevölkerung zeigt sich wenig kooperativ. Wilhelm Fenzl, Polizeipräsident der Oberpfalz, wurde ganz kleinlaut, als ihn ein Redakteur der Mittelbayerischen Zeitung fragte: „Bekommen Sie eigentlich Hinweise aus der Bevölkerung oder bestimmten Kreisen?“ Frenzls Antwort: „Nein.“ Zunahme der „operativen Bemühungen“ Hoffnung setzen die Sonderkommissionen deshalb auf die Zuarbeit ihrer Kollegen vom Staatsschutz und VS, die verstärkt eine „Analyse der Szene– und Gruppenzugehörigkeiten“ betreiben sollen, wie es im Sommer hinter den verschlossenen Türen der Polizeiführungsakademie hieß. Und ein hessischer Verfassungsschützer verklausulierte gegenüber der taz: „Das Phänomen fordert heraus, und aus einer solchen Situation ergibt sich immer eine Zunahme der operativen Bemühungen“. Einzelne Fälle verdeutlichen die „operativen Bemühungen“: Das Bundesamt für Vefassungsschutz versuchte im Juli in Hamburg einen Grün–Alternativen zu gewinnen. Sein Auftrag: Berichte und personenbezogene Hinweise über militante Gruppen zu liefern, um zu erkennen, „wohin jetzt dieser ganze Trend geht“. Für anfangs monatlich 500 DM sollte er „erst ganz harmlose Sachen“ machen. Zwei Bayerische Beamte flogen bereits im Frühjahr auf bei der Bespitzelung einer BI–Gründungsversammlung in der Oberpfalz; und ein Münchner V–Mann, der jahrelang für den bayerischen VS gezündelt haben will, bekannte, angeblich kurz vor der „Versetzung“ in die Regensburger Initiative BIWAK gestanden zu haben. Aufsehen erregte Anfang November die Aufdeckung eines monatelangen Versuchs des baden– württembergischen VS, eine Informantin auf die Ravensburger linke Szene anzusetzen. Die 23–jährige Vera Mößner ging zum Schein auf das Angebot ein und berichtete später, das sie „andere Leute animieren“ sollte, „Aktionen zu starten“. Noch eine Woche vor der Veröffentlichung des Anwerbeversuches hatte Landespolizeipräsident Alfred Stümper gegenüber der taz bestritten, daß Informanten als „agents provocateurs“ eingesetzt würden. Der erfahrene Vorreiter unkonventioneller Ermittlungsmethoden wollte angeblich eher „Under– Cover–Agents in Sägekommandos schicken“, wenn er könnte. „Schwer erkennbare Strukturen“ Doch die militanten Aktionsgruppen erweisen sich als wenig anfällig für die „dirty tricks“ der Sicherheitsbehörden. Anders als bei militanten Demonstrationen, wo die Beobachter des VS im Getümmel fast immer anwesend sind und sich bei Steinwürfen notfalls auch „sozial adäquat verhalten“ sollen, um nicht als V–Leute aufzufallen, wie Hamburgs VS–Chef Christian Lochte bei einer Podiumsdiskussion der Grünen in Wiesbaden dem Publikum eröffnete, finden sich zu den Sabotageakten der „sägenden Zellen“ in der Regel nur langjährige politische Vertraute zusammen. Zum Kummer des VS: „Wir können vielleicht noch erkennen, aus welchen Kreisen und Gruppen bestimmte Anschläge verübt werden“, beschreibt Hessens VS– Chef Günther Scheicher die Lage seiner Informationsbeschaffer, „aber an einzelnen Personen können wir das dann noch lange nicht festmachen“. In den „schwer erkennbaren Strukturen der Autonomen“ erkennt er das größte Problem: „Nachrichtendienstlich ist da nur schwer ein Fuß auf den Boden zu bekommen - es gibt nichts Schöneres als die DKP mit ihren Parteikassierern.“ Auch Günther Beckstein, CSU– Landtagsabgeordneter und Vorsitzender des bayerischen Sicherheitsausschusses, zeigt sich pessimistisch: „Die Erkenntnislage ist denkbar schlecht.“ Der CSU– Hardliner steckt deshalb den Rahmen verdeckter Aufklärungsmaßnahmen auch sehr weiträumig: „Gruppen, die zu Gewalttaten aufrufen, sie billigen oder - im Einzelfall - sich nicht davon distanzieren, ziehen eine Beobachtung nach sich.“ Dieses operative Ziel des bayerischen VS betrifft praktisch die Mehrheit der bayerischen Anti–AkW–BIs und war die interne Begründung für eine großzügige Verstärkung der VS–Außenstellen in Regensburg und Nürnberg. Distanzierung oder V–Leute Deutlicher noch äußerte sich Christian Lochte bereits im vergangenen Jahr, wenige Monate nach dem in Anti–AKW–Initiativen mit offener Zustimmung kommentierten Anschlag von Krümmel: „Wenn Ihr Euch nicht distanziert, dann kommen wir“, kündigte er BI–Mitgliedern auf einer Veranstaltung im Wendland an. Der Hamburger VS vertritt die These, daß auch bürgerliche, nicht erklärtermaßen systemfeindliche Anti–AKW–Aktivisten Masten umlegen, (“Krümmel, das war der Einfall der Wenden ins Lauenbürgische“) denn, so Christian Lochtes Einschätzung in einer Stellungnahme zur Novellierung des Paragraphen 129 a, „für den Bereich der Anti–AKW– Arbeit gilt das Umlegen oder Umsägen von Strommasten als eine von mehreren Formen gewaltfreien Widerstandes.“ In Bayern mag man sich diesen Überlegungen des Hamburger VS–Chefs nicht anschließen: „Es ist nicht vorstellbar, das bürgerliche Kräfte Masten umlegen“, bekräftigt Günter Beckstein die Theorie der CSU–geführten Sicherheitsbehörden von den „überregional straff organisierten Chaot AKW–Ableitungen tabu Militante Anti–AKW–Aktivisten sehen die Debatte gelassen. „Wir werden insgesamt noch vorsichtiger und verantwortungsbewußter sein müssen“, beschreibt ein „Sägefisch“ den Diskussionsstand seiner Gruppe. „Viel wichtiger finde ich, daß wir die Sympathie bei den Leuten nicht leichtfertig verscherzen. Seit Tschernobyl sind z.B. Direktableitungen von AKWs für uns tabu. Wir möchten nicht verantwortlich sein für eine Schnellabschaltung, die zu einem Störfall führt. Das wär ja Wahnsinn!“. Kritik äußert er - wie etliche andere Gesprächspartner - an der Durchführung einzelner Anschläge auf Anlagen der Bundesbahn: „Diese Haken über der Oberleitungsmasten sind unverantwortlich. Es gibt bestimmt genügend andere Möglichkeiten, einen Zug gefahrlos zum Stehen zu bringen.“ Das „Phänomen der Solidarisierung“ Auf der Gegenseite ist sich Günter Beckstein sicher, „daß es in der Tat über lange Zeit behar Gewalttätern“ am besten beizukommen ist. Patentrezepte hat keiner anzubieten. „Das sind ja aktualitätsbezogene Aktionen“, meint der Chefanalytiker des hessischen VS. „Wir haben nach der Erfahrung mit der Startbahn–West vor solchen Großprojekten gewarnt. Ich dachte, das sei das letzte mal gewesen, daß so eine Anlage durchsetzbar ist. Zumindest müßte man sich um mehr Information und Glaubwürdigkeit bemühen“, lautet sein Wunsch an die „politische Ebene“. In Wiesbaden gibt man denn auch dem erweiterten Paragraphen 129 a wenig Chancen, die Militanz einzudämmen: „Zur Bekämpfung der Autonomen bringt das gar nichts“, schätzt Günter Scheicher. „Abschreckungsmodelle nützen bei Überzeugungstätern nichts.“ Ausstiegsbeschluß wertvoller als 100 Spitzel Weil „operative Maßnahmen“ der Sicherheitsbehörden wenig Aussicht auf nachhaltigen Erfolg versprechen, und Gesetzesverschärfungen allenfalls zu einer noch größeren Abschottung von Sabotage–Kleinstgruppen führen, die Bundesrepublik sich gar an einen „gewissen Bodensatz“ von militanten Aktionen gewöhnen muß, wie ein leitender Verfassungsschützer prognostiziert, deshalb wird, nach übereinstimmender Meinung verschiedener Sicherheitsexperten, nur eine Veränderung des politischen Klimas die in der BRD zuvor nie so weit verbreitete Sympathie mit Anschlägen gegen das Atomprogramm zurückdrängen können. Knackig, kurz und zynisch kommentiert ein hoher Innenministerialer: „Aus unserer Sicht ist der SPD–Ausstiegsbeschluß wertvoller als 100 gutplacierte Informanten bei den Autonomen.“ Die graue Eminenz konservativer Sicherheitspolitik, Alfred Stümper, holt noch weiter aus: „Sicherheitspolitik bewegt sich immer zwischen sturer Durchsetzung des Rechts und der Befriedung des Protestes. Zuviel Druck schafft eine Verschärfung der Auseinandersetzungen, blindwütiges Umsichschlagen wäre falsch. Befriedungskonzepte benötigen Vertrauen“, formuliert der geistige Pate der Deskalationsgespräche. „Die Nutzung der Kernenergie ist, wie Gentechnologie und SDI, eine existentielle Frage, die den Menschen Angst macht“, sinniert er. „Zur Angst darf da nicht zusätzlich das Gefühl der Ohnmacht treten.“ Lange Pause. „Der Mensch braucht eine Heimat und muß die Möglichkeit politischer Einflußnahme sehen - sonst läuft der Protest aus dem Ruder.“ Sein Blick verliert sich in die Ferne. „Nun stellen Sie sich einmal vor, die Grünen kämen nicht wieder in den Bundestag, nicht auszudenken...“.

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