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„Nationaler Kompromiß“ in Afghanistan ?

■ Zum siebten Jahrestag der sowjetischen Intervention in Afghanistan mehren sich die Zeichen einer Versöhnungsbereitschaft der „Demokratischen Volkspartei Afghanistan“ unter ihrem neuen starken Mann Nadjib. Über die Chancen, den Krieg zu beenden, den niemand gewinnen kann, schreibt Heinz Wasmus aus Kabul

Eine rote Fahne weht über dem Rohbau des Ministeriums für Kommunikation im Zentrum von Kabul. Das Gebäude, das schon jetzt alle anderen in der afghanischen Hauptstadt in den Schatten stellt, gilt den staatlichen Planern als Symbol für den Aufbruch des Landes in die Moderne. Doch die zukünftigen Benutzer werden sich noch eine Weile gedulden müssen. An guten Tagen werkeln gerade ein Dutzend Arbeiter im fünfzehnten und bislang letzten Stock des erdbebensicheren Hochhauses. Langsam geht es auch auf den anderen Baustellen voran. Etwa dort, wo nach osteuropäischem Vorbild neue Wohnblocks aus Betonfertigteilen entstehen - gewiß keine architektonischen Kleinode, aber mit Stromanschluß, fließendem Wasser und Zentralheizung. Auch in den Neubaugebieten mangelt es an Arbeitern, sucht man junge, gut ausgebildete Fachkräfte zumeist vergebens. Und selbst in den wenigen industriellen Musterbetrieben wie in der von der Sowjetunion gebauten Düngemittelfabrik im nördlichen Maza– i–Sharif sind die Reihen der kommunistischen Jugendorganisation stark gelichtet. Die jungen Männer, soweit sie im Land geblieben sind, stecken heute in der groben Uniform der afghanischen Armee. Der Krieg gegen die Rebellen, der ins neunte Jahr geht, hat Vorrang. Ehrgeizige Reformvorhaben müssen da zurückstehen. Nach der Grundausbildung erhalten die Wehrpflichtigen 4.000 Afghani monatlich, annähernd das Doppelte eines Junglehrergehalts. Mohammad Tadjike, der sechs Stunden täglich vor dem „Hotel Kabul“ Wache schiebt, bringt es sogar auf 6.500 Afghani im Monat: er ist auch nach zwei Jahren Wehrdienst dabeigeblieben. Kostenlose Verpflegung, „gutes Essen“, wie er betont, gibt es obendrein. Nicht zuletzt durch eine für afghanische Verhältnisse fürstliche Entlohnung ist es der Regierung gelungen, die Streitkräfte zu regenerieren. Aus einer desolaten und unzuverlässigen Rumpftruppe ist in den letzten Jahren eine neue, besser ausgebildete, politisch geschulte und erfahrene Armee entstanden, deren heutige Stärke im Westen wahrscheinlich unterschätzt wird. Zwar verweigern die Verantwortlichen beharrlich genaue Angaben, doch dürften inzwischen wieder annähernd 100.000 Offiziere und Soldaten auf seiten der Regierung stehen. Militärische Erfolge Kabuls Zur gegenwärtigen Lage befragt, verweisen hohe Offiziere auf zwei Entwicklungen. Zum einen führe die afghanische Armee mittlerweile auch schwierige Operatio nen gegen die Aufständischen ohne Unterstützung sowjetischer Truppen durch. Zum anderen verlagerten sich die großen militärischen Auseinandersetzungen immer mehr an die Grenzregionen zu den Nachbarländern Pakistan und Iran. Oftgenanntes Beispiel für beide Behauptungen ist die Einnahme des unweit der pakistanischen Grenze gelegenen Rebellenstützpunktes Jawar im Frühjahr. Ihr ist im Armeemuseum ein „liebevoll“ modelliertes Sandkastenszenario gewidmet. Mohammad Sharif, der von Kabul eingesetzte Leiter der drei nördlichen Provinzen, versichert, die Regierung sei seit zwei Jahren Herr der Lage. Zerstörte Stromleitungen an der Straße von der Provinzhauptstadt Mazar–i–Sharif in die geschichtsträchtige Kleinstadt Balkh, die Ruine einer ausgebrannten Schule und eine stark beschädigte Moschee sind allerdings noch zu besichtigen. Selbst wenn im Norden Afghanistans ein Hauch von Normalität zu spüren ist, wäre es ein Trugschluß anzunehmen, daß der Krieg in absehbarer Zeit für die Regierenden in Kabul und die sowjetischen Truppen zu gewinnen sei. Auch Militärs und Politiker schließen dies in informellen Gesprächen aus. Denn die militärische Sicherung der Städte und Verbindungsstraßen und die Ausweitung der Kontrolle auf die umliegenden Landesteile erfordert einen ungeheueren Aufwand an Menschen wie Material und erweist sich dennoch oft genug als brüchig. Inflation verschlingt „revolutionäre Errungenschaften“ Die herrschende DVPA bewegt sich letztlich in einem Teufelskreis. Ihre Überlebenschancen steigen in dem Maße, wie sie sich als sozial attraktive politische Kraft zu profilieren vermag; das ambitionierte Reformprogramm aber ist unter Kriegsbedingungen nur mit gehörigen Einschränkungen und Verzögerungen zu realisieren. Zwar lassen sich die von Partei und Regierung ausgepriesenen „Errungenschaften der Revolution“ nicht übersehen. Mit begründetem Stolz zeigt man dem Besucher Alphabetisierungskurse, Kindergärten und Krankenhäuser. Und die überfällige Landreform wird - immer noch - durchgeführt. Doch dies ist alles weit davon entfernt, flächendeckend zu sein. Viel schwerer als jede neue Schule wiegen jene Rückschläge, die die Bevölkerung unterschiedslos treffen. Die Inflationsrate dürfte sich in den letzten zwei Jahren auf gute 100 Prozent belaufen. Die Kriegsführung ist kostspielig. Trauben aus Jalalaad, Melonen aus Mazar, aber auch pakistanische Konfitüre, deutsches Bier, italienische Jeans und japanische Fernseher bieten die Kabuler Händler feil, aber sie lassen sich das Risiko, Warentransporte durch Überfälle der Rebellen zu verlieren, in barer Münze bezahlen. Der Staat schafft es zwar, die Preise für Brot und Reis einigermaßen stabil zu halten. Den sozialen Abstieg aber kann er nicht auffangen. Der Mangel an Devisen macht viele Anstrengungen zunichte. Gesundheitsminister Dr. Nabi Kamyar, ein Chirurg mit bundesdeutscher Studien– und Berufserfahrung, macht die Bilanz auf, daß heute pro Jahr mehr als zehnmal so viele Mediziner ausgebildet werden wie vor der Revolution 1978. Doch dies ist nur die halbe Wahrheit. Das Gehalt von 2.000 Afghani im Monat (ein Kilo Fleisch kostet 200 Afghani) und die Aussicht, anstelle des Militärdienstes zwei Jahre in der Provinz praktizieren zu müssen, treibt einen stattlichen Teil der Jungmediziner nach Pakistan - Durchgangsstation für lukrativere Ziele wie Westeuropa oder die USA. Resignation klingt mit, wenn der neue afghanische Parteichef Nadjib während einer internationalen Pressekonferenz im Oktober erklärt, daß „der Imperialismus“ im Afghanistan–Konflikt sein Geld nicht zum Fenster hinauswerfe. Die amerikanische 280–Millionen–Dollar–Jahresgabe für die Aufständischen reicht allemal aus, um der Kabuler Regierung und der Sowjetunion ernste Probleme zu bereiten. Die lassen sich, etwa durch die Lieferung moderner Luftabwehrwaffen, beliebig verschärfen. Neue Linie Moskaus Zu dieser Einsicht ist man längst auch in Moskau gelangt. Denn das Afghanistan–Engagement schadet nicht nur dem internationalen Renommee, es verschlingt vor allem mehrere Millionen Dollar täglich - eine Summe, die die nicht eben überversorgte sowjetische Bevölkerung eines Tages übelnehmen könnte. Für die hochfliegenden Pläne von Michail Gorbatschow, die Erblasten der Breschnew–Ära zu überwinden, ist die „blutende Wunde“ Afghanistan ein kostspieliges Hindernis. Vieles spricht deshalb dafür, seine Versicherung ernstzunehmen, die sowjetischen Truppen „schon in allernächster Zukunft in die Heimat“ zurückholen zu wollen. Der im Oktober aufwendig zelebrierte Abzug von sechs Regimentern könnte also eine „politische Lösung“ des afghanischen Dramas beschleunigen, auch wenn die Sowjetunion einen überstürzten Aufbruch gern vermeiden möchte. Die Hoffnungen ruhen auf den von der UNO vermittelten afghanisch–pakistanischen Verhandlungen in Genf. In den Grundzügen hat man sich dort über die Unterbindung ausländischer Hilfe für die Rebellen, den Abzug der sowjetischen Truppen und die Rückkehr der afghanischen Flüchtlinge geeinigt. Doch der für ein Abkommen unverzichtbare Segen Washingtons dürfte ohne eine Verschiebung des Machtgefüges zugunsten der Widerstandskräfte nicht zu haben sein. Teil der sowjetischen Rückzugsgefechte ist der Austausch des Generalsekretärs der DVPA. Seit dem Amtsantritt des Karmal– Nachfolgers Nadjib im Mai hat sich die Propaganda des Regimes geändert. „Unser Volk ist den Krieg leid“, sagt Nadjib. Das „sinnlose Blutvergießen“ müsse endlich beendet werden. Nahezu täglich werben seitdem die Partei– und Regierungsmedien für „Versöhnung“ und einen „nationalen Kompromiß“. Am 15. Oktober unterbreitete der neue starke Mann das Angebot, eine „Regierung der nationalen Einheit“ zu bilden. Eingeladen dazu seien auch „alle politischen Kräfte, die sich jenseits der Grenzen des Landes aufhalten“. Einzige Vorbedingung: die Bereitschaft zur „konstruktiven Zusammenarbeit“. Offerten an den Widerstand An wen sich die Friedensappelle im einzelnen richten, verschweigt Nadjib bisher. Für konkrete Informationen sei die Zeit noch nicht reif. Doch es ist in Kabul ein offenes Geheimnis, daß in erster Linie die drei sogenannten gemäßigten Rebellengruppen im pakistanischen Exil gemeint sind: Die „Nationale Islamische Front“ unter Pir Gilani, die „Nationale Befreiungsfront“ von Sayid Mojadeddi und die „Islamische Bewegung“ von Maulawi Nabi. Von ihnen ist kein grundsätzlicher Widerstand gegen gemäßigte gesellschaftlichte Reformen zu erwarten. Und sie werden wegen ihrer Distanz zu den religiösen Extremisten im afghanischen Widerstand auch von den westlichen Regierungen favorisiert. Alle drei gemäßigten Gruppen verbindet zugleich die Sympathie für den 1973 gestürzten afghanischen König Zahir Schah, der heute im Exil in Rom lebt. Gegen Ende seiner Regentschaft ungeliebt, hat er heute wieder viele Anhänger. Denn ihm traut man die Rolle eines Vermittlers zwischen den verfeindeten Parteien zu. In der afghanischen Hauptstadt haben deshalb Gerüchte um die Rückkehr des Ex–Monarchen und seines ehemaligen Ministerpräsidenten Dr. Jussuf wieder Kon junktur. Der schon im September, lange vor seiner endgültigen Ablösung erfolgte Auszug von Babrak Karmal aus dem Revolutions– und ehemaligen Königspalast gibt den Spekulationen zusätzlichen Auftrieb. Dort sollen sich inzwischen die Handwerker zu schaffen machen. In den Kabuler Teehäusern will man zudem wissen, daß das Grabmal des Königsvaters Nadir Schah zur Zeit mit viel Aufwand restauriert wird. Für einen „nationalen Kompromiß“ stehen tatsächlich nur die königstreuen Widerstandsgruppen zur Verfügung. Daß diese sich bisher nach außen unversöhnlich gezeigt haben, wird von Regierungsseite gelassen aufgenommen. „Wir können warten“, heißt es allenthalben. Die neue afghanische Führung scheint bereit, einem Teil ihrer Gegner ein gewaltiges Stück entgegenzukommen. „Wenn wir Frieden wollen, müssen wir einen hohen Preis bezahlen“, bestätigen mit den Geschehnissen vertraute Funktionäre in Kabul. Der Preis besteht in der Aufgabe des Führungsanspruches der kommunistischen Staatspartei. Es sollen Pläne existieren, im Zuge der Bildung einer Koalitionsregierung die Mehrzahl der Ministerämter aufzugeben. Nur auf das Innen– und das Verteidigungsministerium möchte man nicht verzichten. Reformprogramm der Regierung ohne Alternative Die vom ideologischen Ballast uneinlösbarer Ansprüche befreite Partei, so die Überlegungen, sei im Frieden eher in der Lage, Sympathien der Bevölkerung auf sich zu ziehen und zumindest Teile ihres Programms zu verwirklichen. Die Chancen dafür stehen nicht so schlecht, wie man auf den ersten Blick meinen möchte. Denn zum Reformprogramm der DVPA, zu Alphabetisierung und Landreform, zu einer Politik, die sich um die Befreiung der Frauen und um die Gleichberechtigung der verschiedenen Nationalitäten bemüht, gibt es keine Alternative. Der neu erlernte Pragmatismus der Partei ist dabei sicherlich hilfreich. So zahlte sich das Bemühen um die Gunst der islamischen Geistlichkeit jüngst bei einer Impfaktion gegen Kinderkrankheiten aus: Auch UNICEF bescheinigte den Erfolg der Kampagne, in der die Gesundheitsbehörden auch in den Moscheen der Hauptstadt impfen durften. Hinzu kommt, daß die Vertreter einer dem iranischen Vorbild nachempfundenen „islamischen Republik“ selbst unter den im Land gebliebenen Regierungsgegnern kaum Beifall finden. Bei den unverschleierten Frauen in Kabul rufen sie Schreckvisionen hervor. Wenn deshalb die Regierung religiöse Eiferer vom Schlage eines Hekmatyar oder Rabbani, Führer fundamentalistischer Rebellengruppen, von jeder Machtbeteiligung ausschließen will, dann ist das in Afghanistan durchaus mehrheitsfähig. Für den Erfolg des neuen DVPA–Kurses wird entscheidend sein, ob Parteichef Nadjib ausreichend Unterstützung in den eigenen Reihen findet. Das aber ist noch völlig offen. Zwar ging die Ablösung Karmals als Generalsekretär für afghanische Verhältnisse ausgesprochen diszipliniert über die Bühne. Aber seit dem Wechsel im Mai schwelt unter der Oberfläche ein parteiinterner Konflikt, denn der geschaßte Karmal genießt bei den Parteimitgliedern eine weitaus größere Popularität als sein Nachfolger. Die Karmal–Gefolgschaft hadert mit der kompromißlerischen Linie Nadjibs. Die Führungsrolle der Partei gilt ihnen als unantastbar. Sie fürchten nun den „Ausverkauf der Revolution“. Der neue Generalsekretär wird es auch in Zukunft nicht leicht haben. Mit seinem Programm, die kommunistische Partei auf eigene Füße zu stellen, muß er bei all jenen Parteifunktionären anecken, die bisher mit der Haltung leben konnten, daß es letztlich der sowjetische „große Bruder“ schon richten wird. Die Forderung nach Eigeninitiative und nach Übernahme von Verantwortung schafft da wenig Freunde. Nicht zuletzt wegen der labilen innerparteilichen Situation braucht eine politische Lösung Zeit. Ohne daß zuvor seine Position konsolidiert ist, kann sich Parteichef Nadjib gegenüber den umworbenen Regierungsgegnern nicht allzuweit vorwagen. Ebensowenig kann der Abzug der Roten Armee, an dessen zeitlicher Festlegung die endgültige Einigung in Genf bislang scheiterte, von heute auf morgen erfolgen. Selbst die Kleinhändler im alten Bazar von Kabul vermögen sich kaum Schlimmeres vorzustellen als einen übereilten Rückzug der Sowjetsoldaten, der ihrer Meinung nach das Chaos zur Folge hätte. Für die Bazaris sind die sowjetischen Truppen trotz aller Vorbehalte auch geschäftssichernder Ordnungsfaktor. Kurz vor dem siebten Jahrestag der sowjetischen Intervention keimen in Afghanistan zarte Hoffnungen auf eine Beendigung des Krieges. Die rote Fahne auf dem Neubau des Kommunikationsministeriums wird dann vermutlich eingeholt werden. Vielleicht ist dann der friedliche Aufbruch des Landes möglich.

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