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„Nichts wird mehr wie vorher sein“

■ Die Pariser Studentenrevolte hat abrupt geendet, ohne sich nach dem Stopp der Universitätsreform neue Ziele zu setzen. Dennoch ist ihre Tragweite kaum zu unterschätzen: Die französische Rechte ist in die Defensive geraten, das Prinzip der Gleichheit hat gegenüber dem „neoliberalen“ Individualismus aufgeholt

Aus Paris Georg Blume

„Es ist hier ganz still. (...) Man macht sich jetzt in der Ferne gewiß die sonderbarsten Vorstellungen von dem hiesigen Zustande, wenn man die letzten Vorfälle (...) bedenkt. Und doch sehen wir diesen Augenblick hier so wenig Veränderung, daß wir uns eben über diesen Mangel an ungewöhnlichen Erscheinungen am meisten wundern müssen.“ Heinrich Heine schrieb diese Zeilen am 17. Juni 1832 aus Paris, zehn Tage nach der französischen Junirevolution. Zehn Tage nach dem Ende der französischen Schüler– und Studentenrevolte des Dezembers 1986 mangelt es in Frankreich erneut an ungewöhnlichen Erscheinungen. Die Welt scheint wieder in Ordnung: die Schüler und Studenten gehen wie eh und je in Kurse und Vorlesungen, Premierminister Jacques Chirac ist zu den normalen Regierungsgeschäften zurückgekehrt und Franois Mitterrand bleibt Präsident. So als ob die Flutwelle der Proteste keinerlei Spuren zurückgelassen hätte. „Und trotzdem“, schreibt der links–liberale Nouvel Observateur, „wird nichts mehr wie vorher sein.“ Jacques Chirac verstand die Jugendrevolte zweifellos besser als die meisten Beobachter. Indem der Premierminister nicht nur die umstrittene Universitätsreform, sondern das gesamte noch ausstehende neo–liberale Reformprogramm vorläufig zurückzog, interpretierte er die Schüler– und Studentenproteste als eine tiefgehende soziale Bewegung, ohne daß diese selber Forderungen formuliert hätte, die über den Stopp der Universitätsreform hinausgingen. Zwar nahm die Revolte ein abruptes Ende, doch Jacques Chiracs politische Glaubwürdigkeit hat arg gelitten. Seit seiner Ernennung zum Premierminister nach den Parlamentswahlen im März schien Jacques Chirac zu erreichen, was er wollte. Trotz Mitterrand - er regierte das Land. Er verstand es, das Wahlprogramm der beiden großen Rechtsparteien, seiner eigenen gaullistischen RPR und der UDF von Giscard dEstaing, ohne jeglichen Kompromiß durchzusetzen. Gegen den ausdrücklichen Willen des Präsidenten leitete Chirac die Privatisierung der von der Linken nationalisierten Großbetriebe ein, sein Wirtschafts– und Finanzminister Balladur krempelte, von der Öffentlichkeit kaum kritisiert, die Haushaltspolitik des Staates nach neoliberalem Muster um: weniger Steuern für die Vermögenden, weniger Sozialausgaben für die Bedürftigen. In der Sozialpolitik hob Arbeitsminister Seguin die Entlassungsbeschränkungen für kleine und mittlere Betriebe auf. Dem Kulturminister wurden die Mittel gekürzt. Und Innenminister Pasqua hielt das Versprechen ein, eine neue Politik der inneren Sicherheit rigoros zu praktizieren. Ausländer, Drogenabhängige und Terroristen erklärte die Regierung mit ihren Gesetzesveränderungen zu den Bösewichten der Gesellschaft. Chirac hätte seine Politik nicht so konsequent durchgesetzt, wenn er nicht gewußt hätte, daß diese Politik eine breite soziale Basis hat. Gegen den wirtschaftlichen Liberalismus schienen nach der Mitterrandschen Wende zur Austeritätspolitik 1983 in Frankreich keine ideologischen oder politischen Kräuter mehr gewachsen. Ebenso beherrschten die radikalen Parolen des Rechtsextremisten Le Pen die Diskussion um die innere Sicherheit. Doch Chirac fehlte es an dem, was Mitterrand kürzlich als die Kunst des Regierens gepriesen hatte: dem „Vorhersehen gesellschaftlichen Widerstands“. Das soziale Aufbegehren der Jugend hatte sich in Frankreich seit zwei Jahren angekündigt - in welcher Form auch immer. Im Dezember 1984 demonstrierten spontan hunderttausend Jugendliche, die meisten unter 16 Jahre alt, gegen ein Sendeverbot ihres beliebtesten Pop–Radios NRJ. 1985 schlossen sich über eine Million französischer Jugendlicher der Antirassismusorganisation „sos–racisme“ an und formulierten erstmals die Moral, die sie auch in diesem Dezember trug. Die Moral der Gleichheit, die der wirtschaftlich neoliberalen und politisch autoritär–sicherheitspolitischen Regierungslogik widerspricht. Eine Antwort auf die Frage, weshalb diese Moral jetzt wiederauferstanden ist und wie tief sie verwurzelt ist, ist noch offen. Ist der Wert der Gleichheit durch die besondere Bedeutung, die dieser Begriff aus der Geschichte des Landes schöpft, gegenwärtig geblieben? Wird dieser Wert heute wiederentdeckt, weil die individuellen „neoliberalen“ Bedürfnisse nach sozialem Prestige, die die französische Gesellschaft in letzter Zeit entwickelte, in der Realität nicht einzulösen sind? Unabhängig von der soziologischen Betrachtung der Revolte beherrscht heute ein neues Faktum die französische Politik. „Die Rechte hat ihre ideologische Vorherrschaft verloren“, konstatiert Jacques Julliard, Chefkommentator des Nouvel Observateur. So undeutlich die Revolte in ihren politischen Aussagen blieb: was keine andere Oppositions– bzw. Widerstandsbewegung der westlichen Industrieländer in diesem Jahrzehnt schaffte, gelang ihr - einen Stopp der neoliberalen Reformen herbeizuführen. Chirac ist an einem Punkt angeschlagen, an dem Kohl, Thatcher und Reagan nach wie vor unangreifbar erscheinen. Demgegenüber wußte der französische Präsident aus der Krise Kapital zu schlagen. Als Gegner der rechten Reformpolitik gelang es Franois Mitterrand, im richtigen Augenblick als der große Versöhner zwischen Staaat und Studenten aufzutreten und so den Eindruck zu erwecken, er habe die „nationale Einheit“ bewahrt. Indessen stellt heute nichts sicher, daß Chirac nicht im kommenden April - nach der Wiederaufnahme der Parlamentsdebatten - genau von dem Punkt aus weiterreformieren kann, an dem er nun vorläufig Schluß gemacht hat. Er wird den Versuch nicht unterlassen, die „neue Generation“ (die Tageszeitung Liberation) auf ihre Ausdauer zu testen. Wenn auch heute nichts mehr wie vorher ist, so kann doch alles wieder so werden. Im April 1987 wird sich spätestens zeigen, ob die Erfahrungen des Dezember 1986 - die Radikalisierung der Revolte nach den Polizeiausschreitungen - die französischen Schüler und Studenten zu einer neuen „Bürgerrechtsbewegung“ zusammengeschweißt haben, so wie dies Serge July, Herausgeber der Liberation heute voraussagt. An den französischen Universitäten versuchen aktive Studenten derzeit jene „Wachsamkeitskomitees“ einzurichten, die nach dem Beschluß der letzten „Nationalen Koordination“ der Studenten Alarm schlagen sollen, sobald Chirac zum nächsten Anlauf ansetzt. Auf einer Vollversammlung der Pariser Universität Jussieu, die 70.000 Studenten zählt, sprach der Studentenführer David Assouline am letzten Mittwoch vor nur dreihundert Kommilitonen. Doch man hüte sich vor schnellen Voraussagen. „Das Leben ist hier dramatischer“, schrieb Heinrich Heine einst aus Paris.

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