Müssen Juden wieder auf dem Koffer sitzen?

■ Antisemitismus ist in Österreich im Waldheim–Wahlkampf wieder hoffähig geworden / Kurz vor den Parlamentswahlen im November 86 fand deshalb in Wien eine kontroverse Diskussion zwischen Jüdischer Gemeinde und ÖVP–Mitgliedern statt / Betroffenheit gegen Ignoranz

Aus Wien Antje Bauer

Der „Stadttempel“ in der Seitenstettengasse im Herzen Wiens ist ein langgestrecktes niedriges Gebäude. Seiner Unscheinbarkeit hat er es zu verdanken, daß er in der sogenannten Reichskristallnacht 1938 als einzige Synagoge der Stadt nicht in Flammen aufging. Heute ist er die größte Synagoge der nur noch etwa 8.000 Mitglieder zählenden Jüdischen Gemeinde Wiens. Am 20. November, drei Tage vor den österreichischen Parlamentswahlen, ist der Gemeindesaal des Stadttempels bis auf den letzten Stuhl besetzt. Über hundert zumeist ältere Mitglieder der Jüdischen Gemeinde haben sich eingefunden, um über etwas zu diskutieren, das ihnen seit geraumer Zeit zunehmend Angst macht: der Antisemitismus. Seit dem Präsidentschaftswahlkampf im vergangenen Frühjahr war zum ersten Mal wieder damit Politik gemacht worden. Der von der konservativen Österreichischen Volkspartei ÖVP unterstützte Kandidat Kurt Waldheim war damals aus Trotz gewählt worden - aus Protest gegen die Anschuldigungen, seine Vergangenheit sei nicht so unbelastet, wie er glauben machen wollte. Die Angriffe auf den ÖVP–Kandidaten hatten viele Österreicher als Einmischung in innere Angelegenheiten angesehen. Daß die Urheber der Angriffe Mitglieder des Jüdischen Weltkongresses WJC in New York sind, hatte zu antisemitischen Äußerungen geführt; für diese Äußerungen wurde wiederum der Jüdische Weltkongreß verantwortlich gemacht - er habe diese Emotionen herausgefordert. „Keine sachliche Bewältigung“ Vor allem führende Mitglieder der ÖVP hatten sich mit solchen Sprüchen hervorgetan. So hat der ÖVP–Generalsekretär Michael Graff erklärt: „Es werden hier Gefühle in Bewegung gebracht, (...) die nicht einer sachlichen Vergangenheitsbewältigung dienen, sondern dem gegenseitigen Mißtrauen.“ Und als derselbe Herr Graff einige WJC–Funktionäre als „ehrlose Gesellen“ bezeichnete, mochte sich der ÖVP–Vorsitzende und spätere Kanzlerkandidat Alois Mock nicht davon distanzieren. Die verschiedenen Äußerungen in dieser Richtung haben die Besucher noch gut im Gedächtnis, die am 20. November in Wien mit Vertretern der ÖVP über Antisemitismus diskutieren wollten. Daß ihr Interesse nicht dem Aufbau von Fronten gilt sondern von der Hoffnung geprägt ist, das alles sei nur ein Mißverständnis und könne bereinigt werden, zeigt sich an der Auswahl der ÖVP–Vertreter. Nicht die waren eingeladen worden, die diese Aussprüche getan hatten, sondern Erhard Busek, Vizebürgermeister von Wien und bekannt für seine guten Kontakte zur Jüdischen Gemeinde: Walter Schwimmer, Sozialsprecher der ÖVP im Parlament und Präsident der österreichisch–israelischen Gesellschaft sowie der Industriesprecher der ÖVP, Josef Taus. Auf der anderen Seite des Podiums saßen für die Jüdische Gemeinde der Mediziner Ariel Muzicant, der Psychiater Michael Friedmann und die Geschäftsleute Haber und Reischer. Wir dokumentieren die Diskussion in Auszügen. Das Neue: Mit Antisemitismus wird wieder Politik gemacht Jüdische Gemeinde:Eine der Hauptdiskussionen, die derzeit in meinem Freundeskreis geführt wird, ist: „Sind wir hier noch zu Hause, können wir hier noch leben, ist das unsere Heimat, haben wir uns selbst nicht eigentlich diese Jahre und Jahrzehnte selbst betrogen?“ Wir haben immer gewußt, daß es in diesem Land so etwas wie einen antisemitischen Bodensatz gibt. Antisemitismus war das, was wir täglich erleben. In der Schule, im Laden, auf der Uni, im Beruf: Es ist unser täglich Brot. Für uns neu war, daß mit Antisemitismus Politik gemacht wurde. So sehen und fühlen wir es jetzt seit acht Monaten. Dieses subjektive Gefühl habe ich versucht, zum Beispiel dem Herrn Abgeordneten Schwimmer in einigen Briefen auseinanderzusetzen - ich bin nicht durchgedrungen. Das heißt, es war nicht möglich, zu erklären, wieso wir plötzlich in einer Situation sind, wo wir uns fragen, ja bitte, wie ist das möglich, wie kann eine staatstragende Partei wie die ÖVP und deren Exponenten, ohne selbst Antisemiten zu sein, auf einer Linie agieren... Ich habe bei der letzten Pressekonferenz 15 Statements zitiert, nur die der ÖVP– Presseaussendungen. Ich habe jetzt wieder fünfzehn, und ich kann sie dann wieder beginnen zu zitieren. Das sind Statements, wo wir das Gefühl nicht loswerden - wir etwas extremer denken - den jüngeren österreichischen Juden, daß sie in eine ganz bestimmte Richtung zielen, daß das einen ganz bestimmten Effekt bei der österreichischen Bevölkerung erzielen soll. Und das macht uns Sorge. Ich habe gegen den Willen aller meiner Freunde an dieser Diskussion teilgenommen, weil ich möchte, daß in irgendeiner ferneren Zeit ein Herr Dr. Graff erkennt, was er da anrichtet. Ich möchte haben, daß man mich vielleicht überzeugt, daß wir jüngere österreichische Juden in diesem Land eine Zukunft haben. (Klatschen im Publikum) Sie sind Österreicher, genau wie ich! ÖVP:Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich nehme dieses Thema gerne auf. Ich merke erst jetzt, daß die einen oder anderen Dinge, die man vielleicht selber gar nicht so sehr beachtet hat, Sie offensichtlich tief getroffen haben. Wenn man so im Beruf ist von früh bis spät und dann noch sein politisches Mandat hat, da geb ich das durchaus zu. Sie haben vorhin einen sehr schönen Satz gesagt: „Wir sind alle Österreicher.“ Natürlich, ich habe das nie anders gesehen. Auf einmal gibt es hier eine Diskussion, eine Angst, die ich vielleicht gar nicht so sehr verstanden habe. Und jetzt möchte ich Ihnen etwas sagen, ohne jede Anbiederei: So lange ich hier irgend etwas tun kann, so weit das reicht, wird es hier keinen Antisemitismus geben. Ich bin überhaupt gegen jede Art von Xenophobie. Was soll denn das überhaupt? Sie sind Österreicher, genau wie ich einer bin. Aber wenn so etwas passiert ist, dann muß man es ausräumen. Dann muß man drüber reden, dann vergessen wir, daß es in drei Tagen Wahlen gibt, nicht wahr, obwohl ich es nicht gern vergesse, ich bin ja Mandatar der Österreichischen Volkspartei, aber dann red mer drüber, was da ist, wo das ist... Ich sag Ihnen nämlich noch etwas: Ich glaub nicht, daß das lebendig war, und ich glaub nicht einmal, daß das lebendig ist. Jeder weiß, historisch gesehen, ja natürlich hat es einen Antisemitismus gegeben. Wollen wir gar nicht reden. Vielleicht gibt es auch jetzt einen. (Lachen im Publikum). Aber ich muß doch ganz deutlich sagen, das ist doch keine politische Linie der Österreichischen Volkspartei! (Tumult im Publikum) Bitte, ich gehöre dieser Partei seit meinem 20. oder 21. Lebensjahr an. Und das sind immerhin jetzt 30 Jahre. Die ÖVP ist doch keine antisemitische Partei! Das hätte ich doch merken müssen! (Tumult im Publikum) Der Diskussionsleiter fordert das Publikum auf, von allzu heftigen Unmutsäußerungen Abstand zu nehmen. ÖVP:Die Probleme, die wir diskutieren, sind bitte keine Erfindung des Bundespräsidentenwahlkampfes, sondern diese Probleme sind mit dem Wahlkampf eskaliert. Bestanden haben sie schon vorher. Mich hat getroffen bei einem Fernsehstatement einer Filmregisseurin, die gesagt hat, Jude in Wien sein, bedeutet auf dem Koffer sitzen. Ich hatte das nicht begriffen bis zu diesem Zeitpunkt, daß Sie das so empfinden. (...) Der Punkt, der Sie stört, der mich auch stört, aber nicht so sehr wie Sie, ist der, daß wir hier Sprachreste, Sprachteile haben, die von Ihnen, aus der Geschichte heraus verständlich, sofort mit Antisemitismus gleichgesetzt werden, und die von vielen, die diese Geschichte nicht haben und nicht kennen, verwendet werden in einer Ahnungslosigkeit sondergleichen. So ist meiner Ansicht nach einer der notwendigen Schritte der, darauf aufmerksam zu machen, was bestimmte Sprachelemente bedeuten. Ich habe immer registriert, daß wenn jemand eine Zigarette schief angezündet bekommt, daß das in Wien „a Jud“ heißt. Was das für Sie bedeuten kann angesichts der Holocaustereignisse, ist glaube ich etwas, worüber man mehr Sensibilität entwickeln muß. Ich muß Ihnen allerdings sagen, ich bin ein Augenzeuge der Wiedergabe der Pressekonferenz nach den Präsidentschaftswahlen, wo Sie gebracht wurden mit den Ausdrücken, die Sie als antisemitisch inkriminiert haben. Und ich habe mich bei einer Reihe der Ausdrücke schwergetan, Ihnen zu folgen, da sind Sie überempfindlich. Verständlich aus dem politischen Schicksal, aber ich glaube, wenn man sich hier weiterentwickeln will, müssen wir davon wegkommen, nur aus der Empfindlichkeit zu leben. Dieses Selbstverständnis, daß Sie genauso Österreicher sind wie wir auch, gibt es ganz natürlich und ist ein wesentlicher Bestandteil der Österreichischen Volkspartei. Wenn wir Ihnen dann den Eindruck vermittelt haben, daß dem nicht so ist, müssen wir unsere Sprache überprüfen. Aber dann müssen wir eben aufeinander zugehen, es muß möglich sein, einander die Sprache zu erklären. Ich bin in der Versuchung, auszurechnen und zu fragen: wann ist woanders eine falsche Sprache gewählt worden? Ich möchte das unterlassen. Ich möchte hoffen, daß es gelingt, überall, wo eine falsche Sprache gesprochen wird, zu einer richtigen Sprache zu finden. Das ist die Bitte, die ich an Sie habe.( Klatschen im Publikum). Jüdische Gemeinde:Meine Generation saß eben nicht auf dem Koffer. Das ist eben das Besondere. Das galt zumindest bis vor einigen Monaten. Des weiteren: Sie sprechen hier von semantischen Problemen, von Ausdrücken, die im Volksmund existieren. Jawohl, es wird noch lange dauern, bis wir die wegkriegen - wovon wir jedoch gesprochen haben, sind Ausdrücke wie: „Ehrlose Gesellen“, wie „Vaterlandverleumder“... Diskussionsleiter: Jetzt nach rückwärts zu kramen, bringt uns ja nicht einen Schritt weiter (Beifall im Publikum).