: Alternative Energiegewinnung in der UdSSR
■ Nach wie vor setzen die sowjetischen Energieplaner auf Großprojekte und berücksichtigen kaum die ungeheuren Folgekosten / Dabei gibt es dort eine Tradition der Erforschung alternativer Energiegewinnung, die jedoch (noch) nicht zum Zuge gekommen ist, deren Ergebnisse aber seit kurzem veröffentlicht werden
Von Alice Meyer
Bei minus 30 Grad in diesen Januartagen gleicht Moskau einem Dampfkessel. Aus allen möglichen Kanaldeckeln, Sielen und Erdlöchern entweichen weiße Nebel. Wäre es weniger kalt, würde an bestimmten Stellen der Schnee schmelzen und die blanke Erde zu sehen sein. Dann könnte man die gesamte Streckenführung des gigantischen Fernwärmenetzes und die ungeheure Energieverschwendung erkennen, die hier gang und gäbe ist. Durch schadhafte, schlechte oder schlicht fehlende Rohrisolierungen bekommt der Boden mehr Wärme ab als so mancher Haushalt. Aber nicht nur in diesem Bereich wird mit Energie verschwenderisch umgegangen. Wärmeverbrauchszähler werden nicht einmal hergestellt. Stromzähler sind zwar in den Haushalten vorhanden, aber viele industrielle Großbetriebe haben keine. Niemand kümmert sich um die Folgen dieses Verbrauchs, immer größere Kraftwerke werden gebaut und geplant und trotz der Katastrophe in Tschernobyl setzt die Öffentlichkeit den Bau von Großkraftwerken noch immer mit dem Fortschritt schlechthin gleich. Wasser–, Kohle– und Atomkraftwerke In den sechziger Jahren hatte man den Bau riesiger Wasserkraftwerke in Sibirien begonnen. Heute verfügt die Sowjetunion über die größten Stauanlagen in Asien, und morgen wird sie - wenn der Plan für den Bau des 20.000–Megawatt–Riesen Turuchansk am Jenissei verwirklicht wird - das leistungsstärkste Wasserkraftwerk der Welt besitzen. Die Vernichtung sibirischer Wälder durch Stauseen nimmt ihren Fortgang. Das Ministerium für Forstwirtschaft, Holz– und Papierindustrie läßt sich vom Ministerium für Energiewirtschaft und Elektrifizierung durch fette Abfindungsprämien für die „Abtretung“ von Waldgebieten entschädigen und verzichtet sogar auf die Abholzung der Wälder vor ihrer Überflutung. Und das alles wegen der Ölförderung in West–Sibirien, wo man zu immer höheren Kosten Öl und Gas sucht und fördert, das nur noch zu immer niedrigeren Preisen im kapitalistischen Westen verkauft werden kann. In den siebziger Jahren kam dann der Bau mächtiger Kohlekraftwerke. Heute besitzt die UdSSR mit dem Großkraftwerk in Perm im Ural–Vorland das leistungsstärkste Kohlekraftwerk Europas. In naher Zukunft soll bei den ost–sibirischen Kohlefeldern von Kansk–Atschinsk der größte Kohlekraftwerkskomplex der Welt entstehen in dem jährlich 250 Millionen Tonnen Kohle (!) verfeuert werden. Der Anfang ist dort mit dem Bau des Kraftwerks Berjosowskij–1 schon gemacht. Sowjetische Kohlekraftwerke werden immer noch fast ausnahmslos ohne Entschwefelungs– und Entstickungsanlagen und größtenteils sogar ohne Staubfangeinrichtungen gebaut. Der gegenüber Luftverunreinigungen sehr empfindlichen Pflanzen– und Tierwelt Sibiriens drohen unübersehbare Schäden. Und wofür wird der Strom der östlichen Kohlekraftwerke benötigt? Für die Elektrifizierung der neuen Baikal–Amur– Eisenbahnmagistrale (BAM), die künftig zu 80 sowie für das unsichere Geschäft mit dem Container–Transitverkehr zwischen Westeuropa und dem fernen Osten genutzt werden soll. Die achtziger Jahre standen im Zeichen der Serienproduktion von 1.000–Megawatt–Atomkraftwerken. Heute verfügt die UdSSR in Litauen über den nach sowjetischen Angaben größten Reaktorblock der Welt (elektrische Bruttoleistung: 1.500 Megawatt). Noch vor Ablauf des gegenwärtigen Fünfjahresplanes (1986–90) sollen die weltgrößten schnellen Brutreaktoren (Projekt–Kapazität: 1.600 Megawatt) fertiggestellt und damit der französische Super–Phenix (1.200 Megawatt) übertrumpft werden. Gleichzeitig versucht man fieberhaft, durch großangelegte Westeinkäufe von Präzisionstechnik (z.B. Sicherheitsarmaturen und -ventile für Kernkraftwerke) und Engineering für Störfall–Analysen die eigene Atomwirtschaft nachzurüsten und auf einen angeblich hohen Sicherheitsstandard zu bringen. Moskauer Stellen boten einem westdeutschen Unternehmen sogar schon die Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens mit Sitz in der UdSSR zur Herstellung von Kernkraftwerksarmaturen an. Direktinvestitionen in die sowjetische Atomwirtschaft - das hätte sich noch vor wenigen Jahren kein westdeutscher Industriemanager träumen lassen. Alternative Einzelkämpfer So richtig es ist, daß unter den sowjetischen Eneregieplanern die „Kombinats–Mentalität“ (das Denken in Großobjekten und Großstrukturen) vorherrscht, so wahr ist auch, daß es immer noch Fürsprecher kleiner, erneuerbarer und schadstoffreier Energiequellen gibt. Im Unterschied zu vielen kapitalistischen Ländern handelt es sich nicht um eine breite Bewegung, die den Ausstieg aus der Atom– und sonstigen zentralisierten Energiewirtschaft fordert, sondern um einzelne Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker, die nicht dem „Establishment“ der großen Forschungs– und Entwicklungsinstitute, Projektierungsorganisationen und Kontruktionsbüros angehören und die sich meist als einzelne zu Wort melden. Es sind Menschen, denen Überzentralisierung als angeblicher „Königsweg“ des sozialistischen Aufbaus schon immer suspekt war. Der Widerstand gegen die derzeitige Energiepolitik hat damit allgemein–politische Bedeutung. Um so bemerkenswerter ist es, daß nach der Reaktor–Katastrophe Meinungsäußerungen von Fachleuten, die sich mit staatlich nicht geförderten „alternativen Konstruktionsprojekten“ im Energiebereich befassen, auch schon einmal Eingang in die Spalten der zentralen Presseorgane finden. Zum Sonderling gestempelt Da ist zum Beispiel der Fall des Wladimir Iosifowitsch Sidorow. In einem Beitrag in der Wirtschaftszeitung Sozialistitscheskaja Industrija, vom 28. August 1986, wird seine Lebensgeschichte erzählt. Sidorow ist heute 80 Jahre alt, Erfinder und Staatspreisträger der UdSSR. Aber als Konstrukteur von Windturbinen fiel er schon früh durch das Raster staatlich geförderter Entwicklungsvorhaben. Der alte Mann befaßt sich seit über einem halben Jahrhundert mit dem Bau kleiner Windkraftwerke. Ihn überkommt Resignation, weil er weiß, daß seine Arbeitsergebnisse nicht zur Kenntnis genommen werden und er es - wie er sagt - nicht mehr erleben dürfte, daß seine Anlagen einmal in größeren Stückzahlen gebaut werden. Sidorow hat einen Sohn, der seine Arbeitskraft ebenfalls der Nutzung der Windenergie widmete, aber - wie sich der greise Erfinder ausdrückte - „das Marathon nicht aushielt“ und krank wurde. Im Sommer 1986 hat ein Enkel das Studium der Ingenieurwissenschaften aufgenommen, und Sidorow wünscht ihm, vom „papierenen Wind“ des bürokratischen Apparats verschont zu bleiben, der die Rotorblätter sei ner eigenen Prototypen nicht in Bewegung kommen ließ. Sidorow weiß: es gab Anfänge der Windenergienutzung im Sowjetstaat, ja weitreichende Pläne, diese Primärenergie in großem Stile zu nutzen. In den zwanziger und dreißiger Jahren drehten sich in der Ukraine und am Küstenstreifen längs des Seewegs im nördlichen Eismeer die Windmühlen - es waren Anlagen, an denen er mitgebaut hatte. Heute gibt es sie nicht mehr, sie wurden durch die deutschen Truppen zerstört oder verfielen. Den Rest besorgte der wirtschaftspolitische Schwenk in der Spätphase der Stalin–Zeit und in der Zeit des Kalten Krieges, als nur noch Großkraftwerke gefragt waren. In der Breschnew–Ära, als es unter leitenden Moskauer Wirtschaftsfunktionären Mode war, westeuropäische Industriebosse und Bankiers Luftschlösser von den angeblich „unermeßlichen“ und „unerschöpflichen“ Rohstoff– und Energieressourcen West–Sibiriens vorzuführen, galt es in sowjetischen Fachkreisen geradezu als abgeschmackt, Mittel und Zeit für die Nutzung sogenannter alternativer Energiequellen zu verschwenden. In jüngster Zeit, so weiß Sidorow zu berichten, sei das Interesse an Windkraftanlagen unter sowjetischen Wirtschaftsplanern wiedererwacht. Die Parallele zur Technologiepolitik in kapitalistischen Industrieländern wie der Bundesrepublik ist verblüffend. Die Maßnahmen zur Förderung entsprechender Anlagen blieben aber halbherzig und in sich widersprüchlich. Als federführendes Fachressort wurde, so kritisiert Sidorow, das Ministerium für Melioration und Wasserwirtschaft benannt, das mit Windkraftanlagen überhaupt nichts am Hut hat und auch über keine geeignete Forschungs– und Entwicklungsbasis verfügt. Dessen ungeachtet beeilte sich dieses Ministerium zu erklären, daß die Arbeiten Sidorows „veraltet“ seien und man auf seine in langen Versuchsjahren ausgereiften Konstruktionen nicht zurückgreifen wolle. Dabei habe, so der Erfinder, die Verwaltung „Nord“ des „agro–industriellen Komitees der russischen Föderation“ (RSFSR) bereits Interesse an seinen Windturbinen, die für Leistungen von rund 100 Kilowatt ausgelegt werden können, angemeldet. Diese Anlagen könnten für die Elektroenergie– und Wärmeversorgung in abgelegenen Kolchos– und Sowchosbetrieben eingesetzt werden. Gegenwärtig behilft man sich hier mit unwirtschaftlichen Dieselkraftanlagen. Sidorows Arbeitsergebnisse umfassen darüber hinaus auch energietechnische Anlagen, in denen mit Windkraft Wasserstoff aus Wasser gewonnen wird. Mit solchen Wind–Wasserstoff– Stationen - eine Versuchsanlage konnte Sidorow in den fünfziger Jahren bei Moskau bauen - soll es möglich sein, Energie für windschwache Zeiten zu speichern und Energieträger wie Ammoniak und Methanol zu erzeugen. Federführendes Forschungs– und Entwicklungsinstitut für Großwindanlagen ist in der UdSSR die renommierte Einrichtung „Gidroprojekt“, die vor allem für die Projektierung von Wasserkraftwerken zuständig ist. Für „Gidroprojekt“ sind Sidorows Konstruktionslösungen einige Nummern zu klein. Dieses Institut selbst - wieder finden sich in kapitalistischen Ländern ähnliche Beispiele - hat bisher keine arbeitsfähigen Großwindturbinen vorstellen können. Für solche Aggregate mit elektrischen Leistungen von mehr als einem Megawatt besteht in der sowjetischen Landwirtschaft und in entlegenen Kleinsiedlungen allerdings auch gar kein Bedarf. Es kann nach alledem nicht weiter verwundern, daß der Umfang der Windenergienutzung in der UdSSR sehr bescheiden ist. Nach sowjetischen Angaben waren 1985 erst rund 45 Windkraftanlagen kleiner Leistung in Betrieb. Und dies, obwohl die Aufstellung von Windturbinen auf 60 Prozent des sowjetischen Territoriums grundsätzlich möglich und auch wirtschaftlich sein soll. Importierte Biogasanlagen Die Moskauer Agrarplaner forcieren rücksichtslos die landwirtschaftliche Tierhaltung in Großbetrieben. Überwiegend für solche Betriebe der Schweine– und Geflügelintensivhaltung werden immerhin Biogasgewinnungs– und -verwertungsanlagen bei westlichen Ausrüstungsfirmen eingekauft. Diese Geschäftsverbindungen werden hüben wie drüben als wichtiger Schritt zur Nutzung sogenannter Energiequellen durch die Sowjetökonomie gefeiert, stellen aber praktisch nur den Versuch dar, Folgeprobleme in den Griff zu bekommen, die sich aus den industriellen Großstrukturen im Agrarsektor ergeben. Als Vertreter der bundesdeutschen Partei Die Grünen Ende 1983 in der Moskauer Lomonossow– Staatsuniversität ihre programmatischen Grundsätze auch auf die ökologischen Folgekosten landwirtschaftlicher Großstrukturen hinwiesen, riefen sie unter sowjetischen Studenten und Dozenten verständnisloses Kopfschütteln und ein überlegenes Lächeln hervor. Die Vorteile dezentraler Einheiten zu diskutieren, scheitert nach wie vor an der „Kombinats–Mentalität“. Die Technologie der im Westen eingekauften Ausrüstungen für Biogasanlagen gibt die UdSSR nicht an devisenschwächere Mitgliedsländer des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) wie die Mongolei weiter. Das zentralasiatische Weide–Wirtschaftsland mit seinen Viehzuchtbetrieben wäre angesichts der großen Entfernungen und der schwach entwickelten Infrastruktur geradezu ideal für Biogasanlagen, ebenso für kleine und ortsveränderliche Windkraftanlagen. Der Kraftstofftransport für die Diesel–Generatoren sowjetischer Bauart, die in der Mongolei gegenwärtig installiert sind, kommt das Land, das über praktisch keine eigene Erdölförderung verfügt, teuer zu stehen. Die Problemlösung, die von der Sowjetunion angeboten und mittlerweile auch schon durchgeführt wird, sieht dagegen ganz anders aus: Bei den Kohlelagerstätten von Baga Nuur in der Mongolei entstehen gegenwärtig Großkraftwerke, die in den ostsibirischen und fernöstlichen Energieverbund der UdSSR einbezogen werden sollen. So werden auch in der Mongolei riesige Folge–Investitionen notwendig. Die sowjetische Wirtschaftshilfe im Ausland orientiert sich sklavisch an dem eigenen Entwicklungsweg. Moskauer leitende Funktionäre und Bürokraten werden sich auf diese Weise ein Denkmal als „Förderer der sozialistischen Industrialisierung“ in Klientelländern der UdSSR setzen, und diese Denkmäler sind angesichts des kümmerlichen ökonomischen Nutzeffekts und der schädlichen ökologischen Konsequenzen in den Empfängergesellschaften bestimmt keine Ehrendenkmäler.
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