Manhattans „Shantytown“ kämpft gegen die Kälte

■ Auf einem Trümmergrundstück in New York haben Obdachlose eine Barackensiedlung errichtet / Kampf gegen den Frost und die Räumungspläne der Stadtverwaltung / „Wir überleben hier auf eigene Faust“ / Kritik an städtischem Hilfssystem

Aus New York Ute Büsing

Mike, Joe, Randy, Bob. Alle vier verabschieden sich mit Handkuß. Gentlemen im übelsten Schneesturm, den New York City bislang in diesem Winter erlebt hat. Am Freitag vor acht Tagen hat „Mother nature“, so Joe, voll zugeschlagen. Der Schnee stürmte geradezu aus Donnerkanonen auf die kleine Siedlung ein, die New Yorker Obdachlose mittlerweile im zweiten Winter zwischen ausgebrannten Abrißhäusern und Trümmergrundstücken bewohnen. „Shantytown“, ein Barackenanwesen auf einem Hinterhof zwischen den Avenues B und C auf der 6. Straße der Lower East Side von Manhattan ist das eindeutige Symbol für Obdachlosigkeit in der 7,5 Millionen Metropole. Seit zwei Jahren leben zwölf Menschen in acht Holzverschlägen, die wenig größer sind als Hundehütten. Gleichzeitig steht die Barackensiedlung für Widerstand und Selbsthilfe. Immerhin gehören die Bewohner nicht zum Heer der schätzungsweise Einhunderttausend, die keine andere Bleibe als die Straße oder städtische Obdachlosenasyle haben, in denen Gewaltkriminalität den Tagesplan bestimmt. „Bei uns geht jeder mit vollem Bauch unter einer warmen Decke schlafen. Wenn er am nächsten Morgen aufwacht, ist nichts geklaut worden. Bei uns regieren Wärme, Liebe und gegenseitiger Respekt. Das (städtische) System bietet nichts von alledem. Die geben dir ein Erdnußbutterbrot und entlassen dich in die Kälte.“ Mike Crusdo, laut Selbstbeschreibung Puertorikaner in „Verstand und Seele“, aber „im Herz“ Italiener, ist der Baumeister der Barackensiedlung. „Ich schaffe schneller neuen Wohnraum für die Armen als die Stadt“, sagt er. Mike hat Shantytown zusammen mit seiner Ehefrau Delia Torres gegründet. Es gibt elektrisches Licht aus geheimgehaltener Quelle. Auf dem Gasherd im Haupthaus, das mit goldgerahmtem Spiegel, Sofapolstern und Gewürzregal unter Heiligenbildchen fast einer heimeligen Wohnküche ähnelt, wird regelmäßig gekocht. Mit Gelegenheitsarbeiten und Spenden aus der Nachbarschaft sorgen die offiziell arbeitslosen Bewohner für ein Minimaleinkommen. Die Stadt New York möchte den „illegalen Zustand“ am liebsten ganz schnell beenden. Der Fall ist in der zweiten Runde im Berufungsverfahren vor Gericht. Ersatzwohnraum in einem richtigen Haus ist den Shantytown–Leuten nie angeboten worden. „Wenn wir hier rausmüssen, räumen wir friedlich“, sagt Mike. „Aber niemand kann mich davon abhalten, auf einem anderen Trümmergrundstück neue Hütten zu bauen. Das nennt sich doch hier Land of the free.“ Eine Pulle mit dem Billigrotwein Thunderbird wird herumgereicht. „Klar haben wir hier auch Leute mit Alkoholproblemen“, gibt Delia zu. „Aber wir versuchen denen mit ein bißchen Liebe und Verständnis zu helfen. Außerdem kann das keiner in dieser Saukälte ohne ein bißchen Schnaps aushalten.“ Es ist gegen 10 Grad unter Null. Der Schneesturm bläst gegen die Plastikplane, die das „Haupthaus“ nach außen schützt. „Den Schuh, daß wir eine Truppe von Alkoholikern sind, ziehen wir uns nicht an“, sagt Mike bestimmt. „Wir überleben hier auf eigene Faust, ohne von anderen Leuten oder staatlichen Wohlfahrtsgeldern abhängig zu sein. Das System wird jeden Tag schlimmer. Täglich fliegen Tausende von Menschen aus ihren Wohnungen. Du brauchst bloß 15 Tage mit deiner Miete im Rückstand sein, dann geben die dir 72 Stunden. Wenn du innerhalb dieser Zeit nicht bezahlst, wirst du geräumt.“ Offiziell gibt die Stadt New York zwar nur 40.000 Obdachlose zu, aber die Zahl von mehr als 100.000 ist durchaus realistisch. An jeder dritten Straßenecke sieht man sie stehen: Gruppen von Obdachlosen, versammelt um ein Feuer, das in einer Mülltonne gegen die Kälte zündelt. Die U–Bahnen und -bahnhöfe sind überfüllt mit Menschen, die kein anderes Quartier haben. „Wir leben hier zwar nicht im Lu xus“, kommentiert Mike, der drei Pullover übereinander trägt. „Aber wir müssen nicht hungern und nicht frieren. Das hier ist mein Eigenheim. Ich mag arm sein, aber ich habe einen Traum wie alle anderen Menschen auch.“ Mikes Traum: Er möchte dem „Haupthaus“ ein zweites Stockwerk verpassen. „Damit diese Hütte endlich wie ein richtiges Haus aussieht.“