piwik no script img

Lenins Erben bleiben skeptisch

■ Die Forderungen Gorbatschows nach Demokratisierung stoßen auf große Zurückhaltung

Obwohl das Zentralkomitee der KPdSU bereits zu rund zwei Dritteln mit Anhängern des neuen Parteichefs besetzt ist, fielen die Forderungen Gorbatschows nach einer weitreichenden Demokratisierung des sowjetischen Lebens nicht durchweg auf fruchtbaren Boden. Daß Veränderungen in solchen Dimensionen nur extrem mühsam durchgesetzt werden können, zeigen auch die Reaktionen Moskauer Normalbürger. Die jahrzehntelange Lethargie muß erst noch aufgebrochen werden. Moskau (taz) - Wenn die Menschen gestern mit hochroten Gesichtern durch die Straßen von Moskau gingen, war dies nicht unbedingt ein Zeichen erregt geführter Debatten über sozialistische Demokratie. Viele Sowjetbürger haben die Rede ihres Parteichefs noch kaum zur Kenntnis genommen. Große Teile der Bevölkerung sind entpolitisiert, darunter die Jugendlichen, die nicht mehr bereit sind, den Text einer fünfstündigen Rede in den Zeitungen nachzulesen. Die Form der Berichterstattung über das Plenum verlief in den altbekannten Gleisen. Der Fernsehzuschauer erlebte einige Teilnehmer des Plenums, die nach der Sitzung in ihren Hotels befragt wurden. Wie schon zu Breschnews Zeiten waren alle der Meinung, nun den richtigen Weg gefunden zu haben. Politisch interessierte Menschen sind froh, daß endlich Mißstände in den gesellschaftlichen Entwicklungen aufgezeigt werden, daß über Dinge gesprochen wird, die früher nur unter Freunden diskutiert wurden. Die Bemerkung einer alten Frau: „Gott sei Dank, daß ein solcher Mensch erschienen ist“, drückt die Hoffnung vieler Bürger aus. Immer wieder ist aber auch die Skepsis zu spüren gegenüber einem Leitungsapparat, der seine Pfründe nicht kampflos abtreten wird. Der Presse wird zwar von offizieller Seite die Rolle des Wächters zugedacht, doch in der Bevölkerung wird nach wie vor befüchtet, daß die inneren Strukturen in den Publikationsorganen dies verhindern. Die Absicht, mit mehr sozialer Gerechtigkeit, stärkeren materiellen Anreizen, die Menschen besser von der „revolutionären Wende“ zu überzeugen, steht auf tönernen Füßen. Zwar entstehen allerorten Genossenschaftsläden, die das staatliche Angebot an qualitativen Waren erweitern. Doch die Wurst ist erst zu einem Preis von 11 Rubel je Kilo zu haben. Eine Putzfrau verdient fünf Rubel am Tag, die Mindestrente beträgt 5o Rubel. Welches Interesse hat die Putzfrau an einer Ausdehnung des genossenschaftlichen Sektors, wenn sie die Waren nicht bezahlen kann? Welche Freude hat ein Handwerker über die begrenzte Zulassung privater Arbeit im Dienstleistungsbereich, wenn er dazu die Beurteilung seines Chefs über seine gesellschaftspolitischen Aktivitäten, seine moralische Eignung benötigt. Die Zulassung wird für fünf Jahre erteilt, eine Verlängerung ist nicht sicher. Einige meinen, dieses Gesetz müsse in der vorliegenden Form boykottiert werden. Die „Schattenwirtschaft“, private Arbeit im Dienstleistungsbereich, wird fortleben wie eh und je. Verweigerung wird das Verhalten derjenigen weiter bestimmen, die über moralische Appelle hinaus keine grundlegenden Veränderungen sehen. Gesetze werden halbherzig und unter Schaffung von neuen bürokratischen Instanzen gemacht. Warten wir es ab, so der allgemeine Tenor, wie das Wahlgesetz für die Sowjets aussehen wird. Stellen die Kandidaten nur sich selbst oder ein Programm öffentlich zur Wahl? Fragen, die gestellt und nicht beantwortet werden. Stimmen, die in diesem Einparteiensystem die Ursache für fehlende demokratische Entwicklungen sehen und ohne dessen Abschaffung keine Möglichkeiten der Verwirklichung für die Vorschläge Gorbatschows erkennen können, gibt es auch. Doch die Mehrheit schweigt dazu. Andere haben Freude, Hoffnung, den Willen zur Veränderung, sehen auch Möglichkeiten bei den Vorschlägen zu mehr Demokratie. Doch schon zu oft wurden neue Entwicklungen, neue Aufbaustadien des Sozialismus verkündet. Vom „entwickelten Sozialismus“ in der UdSSR spricht gegenwärtig selbst die Parteiführung nicht mehr. Alice Waite

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen