: Prager Winter und Gorbatschows Reformkurs
■ Der sowjetische Außenminister Schewardnadse erläutert bei seinem Besuch in Prag den Reformkurs / CSSR rechnet mit „subtilem“ Druck aus der UdSSR / Zurückhaltende Reaktionen in der DDR / Bürger–Befragung zum Schewardnadse–Besuch untersagt
Berlin (taz) - „Dank des konsequenten Kurses der Demokratisierung der Innen– und Außenpolitik genießt der Name der Sowjetunion solches Ansehen, daß es schwierig ist, dafür Vergleichbares zu finden“, erklärte der tschechoslowakische Außenminister Chnoupek bei einer Tischrede zu Ehren seines sowjetischen Kollegen Schewardnadse, der sich seit Mittwochabend in Prag aufhält. Die wohlgesetzten Worte können die Vorbehalte der Prager Führung gegen den neuen Kurs in der Sowjetunion kaum verbergen. Denn die nun angestrebte Reform in Moskau gleicht in wesentlichen Inhalten der Politik, die bis 1968 als „Prager Frühling“ in die Geschichte eingegangen ist. Der damalige Einmarsch der sowjetischen, polnischen und DDR–Truppen in das Land machte dem Experiment ein Ende und etablierte das Regime, das bis heute auch personell noch Bestand hat. Parteichef Gustav Husak und vor allem der zweitmächtigste Mann des Regimes, Politbüromitglied Vasil Bilak, der damals den „Hilferuf“ an die Sowjetunion formulierte - der dann zum Anlaß und zur Rechtfertigung für die In vasion wurde - dürften bei den sowjetischen Neuerungen an alte Zeiten erinnert werden. So ist es sehr wahrscheinlich, daß neben anderen Reformvorhaben vor allem die Veränderung der Wahlmodalitäten in der Sowjetunion einer eingehenden „Interpretation“ durch Schewardnadse bedürfen. Die DDR–Führung allerdings zeigt sich von den Moskauer Wandlungen kaum beeindruckt. Selbstbewußt wurden während des Besuchs Schewardnadses die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Erfolge der SED in den Vordergrund gerückt. Der „reale Sozialismus“ habe sich „dank der auf dem VIII. Parteitag begründeten weitsichtigen Generallinie der SED stabil und dynamisch auf dem Boden der DDR entwickelt“, erklärt das Neue Deutschland und zitiert Honecker, der mit Stolz herausstellte, daß die SED es verstanden habe, „rechtzeitig auf neue herangereifte Fragen zu reagieren und sie stets im Interesse der Menschen zu lösen“. Doch immerhin veröffentlichte die Zeitung die Tischrede Schewardnadses sowie Antworten auf Fragen von Journalisten, in der die SED zwar ein dickes Lob erhielt, aber auch der Hinweis gegeben wurde, daß „die kontinuierliche Erweiterung und Vertiefung des Prozesses der Demokratisierung in jedem Bereich (...) das schöpferische Potential des Sozialismus vergrößere“. Daß man diese Lehre in der SED noch nicht beherzigt, zeigt sich daran, daß westlichen Journalisten verwehrt wurde, Reaktionen von DDR– Bürgern auf den Besuch einzuholen. er
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