piwik no script img

I N T E R V I E W Schon immer gegen Hierarchie

■ Pierre Coudelier, Pariser Grundschullehrer und Delegierter der Nationalen Koordination der französischen Grundschullehrer, über Chiracs Schulreform–Pläne und die Lehrerproteste gegen die Einstellung von Schuldirektoren

taz: Einen neuen Grundschuldirektor will Chirac einführen. Nach einer Umfrage empören sich 80 Pierre Coudelier: Seit der Einführung der öffentlichen Pflichtschule in Frankreich vor gut hundert Jahren haben ihre Lehrer eine anti–hierarchische Grundhaltung. Zu Beginn war der Lehrer der Schirmherrschaft eines Präfekten, Geistlichen oder Bürgermeisters unterstellt. Zum Jahrhundertwechsel gab es darum große Auseinandersetzungen. Die Lehrer befreiten sich, und ihre Selbständigkeit gehört seither historisch zur französischen Schulkultur. Mit der Einberufung eines Direktors, dem die Mittel an die Hand gegeben sind, uns Lehrer pädagogisch zu kontrollieren, greift die Regierung diese Schulkultur in ihrem Kern an. Die Lehrer von heute sind die Lehrer von gestern mit den gleichen Ideen? Nein. In die französische Lehrerschaft ist sehr viel Bewegung geraten. Die Lehrer von heute kommen nicht wie 1936, als die Volks front die Pflichtschule bis zum Lebensalter von 14 Jahren verlängerte, aus einfachen Verhältnissen. Sie können den Lehrerberuf nicht mehr direkt nach dem Abitur ergreifen. Die Lehrer von heute kommen aus den gebildeteren kleinbürgerlichen Schichten und sind vier Jahre zur Universität gegangen. Um die Tradition des Lehrerberufs scheint sich die öffentliche Meinung hier wenig zu kümmern. Eltern schimpfen auf Lehrer, weil sie im Schulstreik nicht wissen, wohin mit den Kindern. Die öffentliche Meinung hat nichts verstanden. Man dachte ja, es gäbe schon Direktoren an den Grundschulen. Die bisherigen Schuldirektoren waren für die Eltern bereits die Chefs, für uns waren es Kollegen mit zus an der Schule möglich, auch ohne einen kleinen Patron zu leben, um einen gemeinsamen Blick für die Schule zu entwickeln und gemeinsam an unseren Problemen zu arbeiten. Da kann man hinter der französischen Grundschule ein nahezu in Selbstverwaltung bestehendes Idyll vermuten. Dementgegen gilt die französische Schule in der Bundesrepublik als autoritär und streng. Die französische Verwaltungshierarchie, die eigentliche Autorität im französischen Schulwesen, beginnt erst in der zweiten Sekundarstufe und im Gymnasium zu greifen. In unseren kleinen Grundschulen mit höchstens zwölf Kollegen ist das sehr viel cooler. Von Selbstverwaltung aber ist trotzdem keine Rede. Wir haben hier keinen Pfennig und können Arbeitsmaterial nur beim Ministerium bestellen. Seht ihr eine Chance, wie einst die Studenten gegen die Regierung zu gewinnen? Das ist ein großes Fragezeichen. Heute wird Chirac nicht weichen. Dann sind Ferien. Vieles wird an unserer Gewerkschaft hängen, ob sie wagt, konsequent zu sein. Die Aufgabe unserer Basiskoordination ist es gerade, die Gewerkschaft mobil zu machen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen