: „Das wahre Theater spielt sich oben ab“
■ Tschechische Studenten demonstrierten in mehreren Städten mit Transparenten „Wir wollen Gorbatschow“ und hinterließen ratlose Passanten / Auch vor dem für Anfang April geplanten Besuch des sowjetischen Parteichefs werden Reformgedanken von der Parteispitze blockiert
Aus Prag Florian Bohnsack
„Kommt er nun, oder kommt er nicht?“, war nicht nur die Frage der Studenten, die in den letzten Monaten immer wieder in verschiedenen Städten der Tschechoslowakei demonstriert haben: „Chzeme Gorbacewa“(?), „Wir wollen Gorbatschow“ stand auf Pappen und alten Bettlaken in fast allen Universitätsstädten der CSSR. Er kommt. Michail Gorbatschow hat sich nach einigem Zögern für Anfang April bei seinem mitteleuropäischen Bündnispartner entschieden. Erst kürzlich hatte er das Politbüromitglied Sajkow nach Prag geschickt, um die Haltung der Prager Führung zu seinem Kurs herauszufinden. Denn die öffentlichen Äußerungen des slowakischen Chefideologen Vasil Bilak hatten zu deutlicher Verstimmung im Kreml geführt, Gorbatschow hat - so kann vermutet werden - seinen Besuch von der Zustimmung Prags zu seinem Kurs abhängig gemacht. Über das Verhältnis der CSSR zur Gorbatschowschen Reform ist es inzwischen zum offenen Streit in der Prager Führung gekommen. Chefideologe Vasil Bilak hatte die Auseinandersetzung in die Öffentlichkeit getragen, als er Mitte Februar mit Blick auf die „Entwicklung in der Sowjetunion“ vor „Schmarotzern“ warnte. Auf einer Sitzung der Ideologiekommission der Partei hatte er gesagt: „Es gibt bei uns Leute, die für die neue Politik schwärmen. Sie lassen jedoch die Belehrung über die krisenhafte Entwicklung in unserer Gesellschaft am Ende der sechziger Jahre außer acht.“ Die „Belehrung“ ist das Parteidokument, in dem der „Prager Frühling“ als konterrevolutionär und die Wirtschaftsreformen, wie sie jetzt auch in der Sowjetunion zur Debatte stehen, als „antisozialistisch“ erklärt wurden. Bilak griff die tschechischen Sympathisanten Gorbatschows in der Sitzung scharf an: Diese Leute wollten nur den Widerruf des Parteidokuments von 1970, aber das würden sie nicht erleben. „Wir wissen auch, worum es ihnen geht. Sie möchten an den Veränderungen in der Sowjetunion schmarotzen und dabei ihre volksfeindliche, antisozialistische Tätigkeit verdecken.“ Die Politik der SU führe zur Entfaltung des Sozialismus. Worum es aber den Konterrevolutionären mit ihren Wirtschaftsreformen 1968 gegangen sei, sei genau das Gegenteil von dem gewesen. Später hatte Bilak noch hinzugefügt: „Bei der Anwendung der Erfahrungen von Bruderparteien müssen wir nicht auf opportunistische Manier verfahren, sondern unter der Berücksichtigung der Bedingungen, unter denen wir leben und unserer eigenen Erfahrung vorangehen.“ Ähnlich äußerte sich der für Kaderfragen zuständige ZK–Sekretär Josef Hamann. Erst in der letzten Woche konterte Ministerpräsident Lubomir Strougal vor Parteifunktionären und Betriebsleitern in Prag: „Der Weg, den die Sowjetunion eingeschlagen hat, ist auch der Weg der Tschechoslowakei. Wenn wir heute erneut und absolut eindeutig unsere Gefolgschaft für die Politik der Sowjetunion erklären, ist nichts Opportunistisches daran.“ Der eigentümliche Kompromiß Der Streit in der Parteispitze macht die Schwierigkeiten deut lich, in denen sich die ganze Partei bewegt. Denn nur in Rumänien hat sich die Partei noch weiter vom Volk entfernt als hier. Der relative Wohlstand in der CSSR hat nach 1968 zu einem eigentümlichen Kompromiß geführt. Für die meisten war Staat und Politik Sache der Partei, die Gesellschaft und Wohlstand Sache der Bevölkerung. Jetzt, wo Bewegung und Fortschritt in die Arbeit gebracht werden soll, kommt eben dieser Kompromiß ins Wanken. Denn der durch ein enges Gestrüpp von Hilfe und Selbsthilfe geschaffene Wohlstand auf Kosten der offiziellen Wirtschaft würde durch Reformen beeinträchtigt. „Ergo will dann das Volk mehr politische Freiheiten haben. Wenn sich die Bevölkerung an Reformen beteiligt, dann wird das nur in einer Weiterentwicklung des Modells von 1968 möglich sein. Dann wird das Volk die Macht umsetzen wollen, auf die es in diesem stillen Kompromiß verzichtet hat“, behauptet ein tschechischer Wirtschaftsfunktionär, „und dann hat Bilak als erster ausgespielt. Dann wird er wegen seines „Hilferufs“ an die Sowjetunion büßen müssen.“ Bilak hatte 1968 nicht nur den „Hilferuf“ an die Truppen des Warschauer Paktes inszeniert, sondern auch „die Besetzung der CSSR durch Truppen des Warschauer Paktes als Bruderhilfe zur Rettung des Sozialismus“ bezeichnet und gebilligt. Das sowjetische Militär spielt mit Warum bislang ausgerechnet die DDR, Polen und die Tschechoslowakei so zaghaft an die Reformen aus Moskau herangehen, erklären sich tschechoslowakischen Vertreter mit der Macht der Breschnew–Anhänger in den sowjetischen Truppen in diesen Staaten. Denn die in Polen stationierte Nördliche Streitkräftegruppe der UdSSR, die Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland und die Zentrale Streitkräftegruppe in der CSSR waren das Kernstück in der Absicherung der Breschnewschen Westpolitik. Sie werden noch heute von dem Mann geführt, der 1968 die Umsetzung des Hilferufs Bilaks mitorganisierte: Marshall N.W. Orgakow. Dem heute 69jährigen Militär wurden enge Kontakte zu Breschnew nachgesagt. Noch heute nutzen die Truppen ihren bislang schon vorhandenen politischen Einfluß auf die Stationierungsländer nach Ansicht der Experten deutlich aus, besonders wo ihre neue Rolle in der sowjetischen Außenpolitik noch nicht endgültig definiert ist. Allein schon die Sorge, Gorbatschow könne SDI nicht stoppen und werde dann vom Militär politisch wirkungslos gemacht oder gar aus dem Amt gedrängt, bremst den Reformeifer auch bei denen, die sonst für die Reformen einstehen. Allenthalben zeigen Parteifunktionäre die Sorge, daß mit voreiligen Reformen das Volk wieder politisiert und dann nach einer Wende in Moskau nur noch mit der militärischen Notbremse in die Schranken gewiesen werden könnte. Aber: „Was wir uns 1968 und davor in Zeiten des Kalten Krieges noch leisten konnten, das geht bei der jetzigen politischen Weltlage auf keinen Fall mehr. Die KSZE– und die KVAE–Vereinbarungen sind da eine fast unüberwindbare Schranke. Repressionen sind allenfalls noch staatsintern möglich. Also können wir uns Reformen nur leisten, wenn die politische Situation in Moskau stabil ist. Und das ist sie jetzt nicht“, sagte ein Mitglied der staatlichen Planungskommission im kleinen Kreis. Erstaunlich ist die Leidenschaftslosigkeit der Journalisten gegenüber den Zauberwörtern „Glasnost“ und Kritik. Während Presse und Rundfunk in der Zeit des Prager Frühlings eine führende Rolle in der Diskussion einnahmen, veröffentlichen die tschechoslowakischen Medien immer nur amtliche oder sehr unkritische Texte. Doch seit den Auseinandersetzungen im Oktober und November um die „redaktionellen Kürzungen der Reden Gorbatschows, die zugegeben etwas ungeschickt waren“, steht eine Kürzung der von TASS verbreiteten Beiträge nicht mehr zur Debatte. Es soll nur Engpässe beim Papier gegeben haben, so daß die Parteizeitung Rude Pravo nicht allen Lesewilligen zur Verfügung stand. Es gibt aber keine Sympathie, kaum Erwartungen an die Reformen, die Gorbatschow angekündigt hat. Fast verdutzt sind die Journalisten, daß in ihren Zeitungen nun plötzlich nicht nur der Sportteil, sondern auch der politische Teil gelesen wird. Wohl eher zur Vorsorge hat denn auch der für die Presse verantwortliche und Bilak nahestehende ZK–Sekretär Jan Fojtik klare Richtlinien für Kritik in der CSSR gegeben. „Es geht überhaupt nicht darum, daß schmutzige Wäsche vor dem Haus gewaschen und wunde Stellen historisch entblößt werden, es ist wichtig, daß wir Menschen haben, die sich in Sachgebieten auskennen und fähig sind, über diese kompetent zu verhandeln. Es ist falsch, nur über kritische Dinge zu informieren“, sagte Fojtek. Die Kritik soll den Fachleuten überlassen und damit weitgehend aus den Medien heraugehalten werden. Schriftsteller hinter verschlossenen Türen Auch die Schriftsteller halten nicht viel von der Öffentlichkeit. Hinter verschlossenen Türen hielten sie am letzten Wochenende auf Schloß Dobris bei Prag und in Bratislava ihre Kongresse ab, und hatten nicht mehr zu bemängeln, als daß das „Ansehen der Schriftsteller in der Gesellschaft nur einen sehr niedrigen Stellenwert“ habe. Dafür kam es bei der Wahl der neuen Führungsgremien zu wenigen, aber wesentlichen Veränderungen: Während die parteikonformen Mitglieder in der Führung des Schriftstellerverbandes blieben, schieden der international angesehene Kinderbuchautor Bohumil Riha und der Dichter Miroslav Florian aus dem Gremium aus. Florian hatte es als erster gewagt, sich nach der Verleihung des Literatur–Nobelpreises an Jaroslav Seifert zu diesem zu bekennen. Nun besteht der Vorstand nur noch aus parteikonformen Schreibern. Wir wollen Gorbatschow Die Bevölkerung ist gespalten in Abwartende und Desinteressierte. Bei einer Demonstration von Studenten im nordböhmischen Liberec wird das schnell deutlich. „Chzeme Gorbacewa!“, „Wir wollen Gorbatschow!.“ Vier Studenten halten das alte Bettlaken mit den blauen Buchstaben von der Eingangsbalustrade am Kaufhaus Jested über die Köpfe der Einkaufenden. Der eigentlich so normal häßliche Platz vor dem Kaufhaus verwandelt sich flugs in ein Theater, in dem die Szenen vom Publikum im Rang gespielt werden. Auf den vierzehn Stufen zum Jested–Eingang zeigt das Publikum unterschiedliche Reaktionen. Die einen bleiben stehen, schmunzeln, tuscheln oder kommen ins Gespräch, andere gehen kopfschüttelnd weiter. Doch keiner kümmert sich um die sonst so wichtigen Reaktionen der Staatsmacht, die auf dem Vorplatz ratlos an ihren weißen Funkwagen steht. Nach einiger Zeit gehen ein paar Polizisten zu der diskutierenden Gruppe, um die Versammlung aufzulösen. Den meisten Passanten gefällt der Spruch in seiner Zweideutigkeit, die auch die Polizei ratlos macht. „Das hat doch alles keinen Sinn“, schimpft dagegen eine Rentnerin, „die sollen studieren, damit es uns besser geht und nicht nach dem Onkel aus dem Osten rufen. Der kommt schneller als man denkt, das sage ich Ihnen aus Erfahrung.“ Die Studenten sind von ihrer Aktion etwas enttäuscht. Niemand will diskutieren, die Polizei greift nicht ein, wie das in Bratislava passiert ist. „Ich habe gedacht, die Leute reden wenigstens über das unmögliche Auftreten von Bilak. Aber es passiert nichts“, sagt Jan Mardal, der den Anstoß zu der Aktion gegeben hat. Die Frage, warum sie sich ausgerechnet auf der Balustrade aufgestellt haben und nicht auf den Stufen, wo viele Passanten vorbeikommen, hat er erwartet. „Das ist politisches Design. Die Architektur hier macht den Rahmen eines Theaters möglich. Unten auf der Bühne, dem Platz, stehen die Bullen und keiner interessiert sich für sie. Das wahre Theater spielt sich hier oben im Zuschauerraum ab“, erklärt er mit weitschweifenden Armen, die seine Gedanken noch mit unterstützen sollen. Diese Szene erhellt das Verhältnis zwischen Partei und Volk in der CSSR. „Bei uns kümmert sich niemand mehr um den Staat, sind die Menschen ziemlich entpolitisiert. Und wir versuchen sie mit diesem zweideutigen Spruch wieder anzuregen und den Faden von 1968 aufzunehmen. Und dafür können wir Gorbatschow brauchen.“ Jana, eine Kunstgewerbestudentin, lacht nur darüber. „Da haben wir uns wohl ein bißchen zuviel ausgedacht. Revolution von oben funktioniert eben doch nicht einfach so.“ In den Kneipen kann man überall die gleiche Grundstimmung einfangen: „Natürlich wollen wir Reformen. Aber doch nur, wenn sie uns, dem Volk, etwas bringen. Sehen Sie, da gibt es Leute in Rußland, die denken sich irgendetwas über Demokratisierung und Öffentlichkeit aus. Das ist ja ganz nett. Aber die kann niemand kontrollieren. In der SU wird doch noch immer vieles verheimlicht, nur eben weniger als unter Stalin und Breschnew. Bei uns können sie nichts verheimlichen. Fast zwei Drittel der Republik können sich das westdeutsche oder österreichische Fernsehen ansehen. Was sollen die im Hradschin uns denn da noch verheimlichen können? Und auf halbe Reformen fallen die Tschechen deshalb nicht rein.“ Ein anderer behauptet, daß Gorbatschow genauso wahnsinnig sei wie Chruschtschow es war. „Der Mann ist doch im nächstmöglichen Moment weg vom Fenster. Was helfen uns denn dann Reformen? Die werden früher oder später wieder als konterrevolutionär verschrien. Den Dubcek wollten die nicht und den Bilak wollen wir nicht, denn der macht keine echten Reformen.“ Und in der Opposition sieht es ähnlich aus. Aktivisten aus der Jazz–Sektion sind auch skeptisch. Zwar kann man den meisten Jazzern nicht mehr offen politisch ans Zeug, aber der Führung der Gruppe wird der Prozeß wegen „Wirtschaftskriminalität“ gemacht. Weil sie unerlaubt Broschüren verkauften und nicht geklärt werden kann, aus welchen Quellen das Geld für politische Broschüren stammt, die die Sektion verlegt hat.“ An dieser Daumenschraubenpolitik wird sich nichts ändern, es sei, die jetzige Führung wird abgehalftert. Aber davon können wir noch nicht einmal träumen“, sagt ein Sektionsmitglied aus Bratislava. So wird über Gorbatschow wohl kaum die Lethargie der tschechoslowakischen KP aufgebrochen, weil weder die Bevölkerung mitziehen will, noch die Machtverteilung in der Partei sich verändert. Die Orthodoxen werden das Feld nicht so schnell räumen.
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