: Jahrhundert–Prozeß in der Ausstellungshalle
■ In Madrid begann gestern der Prozeß gegen 41 Verantwortliche für die Speiseölvergiftung von 1981 mit der Verlesung der Anklageschrift / Demonstrationen der Opfer vor dem Gerichtssaal / 2.500 Zeugen, 250 Sachverständige und 662 Aktenordner
Madrid (dpa/afp) - „Mörder, Mörder“ erschallt es draußen vor dem eigens im Madrider Ausstellungsgelände Casa de Campo hergerichteten Gerichtssaal, in dem nach fast sechsjähriger Vorbereitung durch die spanische Justiz am Montag der „Jahrhundert–Prozeß“ um den spanischen Giftölskandal begann. Hunderte der Opfer des „Giftölsyndroms“ nutzen die Gelegenheit, noch einmal auf ihr schon fast vergessenes Leiden aufmerksam zu machen. Auf Transparenten fordern sie „Gerechtigkeit und Gesundheit“ sowie Einlösung der staatlichen Hilfsversprechen. Schon zwei Stunden vor Prozeßbeginn haben sie sich vor dem Gerichtssaal eingefunden, der innen mit durchhängender Baldachindecke, aufsteigenden Zuschauerreihen im Halbrund und einer erhöhten Bühne als „Manege“ für Richter, Kläger und Angeklagte wie ein Zirkuszelt anmutet. Vielen „Colza“ (Rapsöl)–Opfern stehen Nervosität, Krankheit und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Manche sind extrem dünn, andere haben tiefe Ringe un ter den Augen, bei Dritten sieht man erst auf den zweiten Blick die Auswirkungen der Krankheit:verkrümmte Hände, mühsamer Gang, Hautflecken... Bei dem in Spanien bereits im Vorfeld als „Prozeß des Jahrhunderts“ bezeichneten Verfahren geht es um gepanschtes Speiseöl, durch das seit 1981 laut Anklageschrift 650 Menschen getötet und an die 25.000 andere verletzt worden sein sollen. Angeklagt wegen „Totschlags, Betrugs und Anschlags auf die öffentliche Gesundheit“ sind 41 Personen - meist Vertreter der spanischen Speiseölindustrie. Zwei von ihnen sind flüchtig. Den Beschuldigten wird vorgeworfen, vorsätzlich Speiseöl mit billigem, für die Stahlindustrie bestimmtem Rapsöl gepanscht zu haben. Für diese These sind die Ermittlungsbehörden bislang allerdings jeden Beweis schuldig geblieben. Experten zufolge dürfte das Verfahren, das als erstes in der spanischen Justizgeschichte vollständig in Video aufgezeichnet wird, mindestens fünf Monate dauern. Geladen sind nicht weni ger als 2.500 Zeugen - darunter der Regierungschef und sein Stellvertreter, Felipe Gonzalez und Alfonso Guerra, sowie 250 Sachverständige. Anklage und Verteidigung haben zusammen 76 Anwälte aufge boten. Die Prozeßteilnehmer werden sich mit einer 250.000 Seiten umfassenden Anklageschrift zu befassen haben, die 662 Aktenordner füllt und von der Ermittlungsbehörde in fünfjähriger Arbeit zusammengestellt wurde. Gegen die Angeklagten hat die Staatsanwaltschaft zusammen über 100.000 Jahre Freiheitsstrafe beantragt. Nach geltendem Recht kann in Spanien allerdings niemand länger als 30 Jahre in Haft gehalten werden.
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