: Nettes Plaudern in Moskau über Gegensätze
■ Nach ihren „sehr langen“ montäglichen Unterredungen mit dem sowjetischen Parteichef diskutierte die britische Regierungschefin gestern mit Andrew Sacharow den Demokratisierungsprozeß / Prawda druckte Thatcher–Kritik in Auszügen / Vier Abkommen unterzeichnet
Moskau (dpa/ap) - Die britische Premierministerin Margaret Thatcher hat gestern während ihres Moskau–Besuches mit dem sowjetischen Regimekritiker Andrej Sacharow über die Menschenrechtsfrage in der Sowjetunion diskutiert. Der 65jährige war zusammen mit seiner Ehefrau Jelena Bonner zu einem Mittagessen in die britische Botschaft eingeladen worden. „Wir haben über Menschenrechte, Leute, die in psychiatrischen Kliniken eingesperrt sind, und über Leute in Arbeitslagern gesprochen,“ sagte Sacharow nach der Begegnung. „Wir haben die Abrüstungsdiskussion erörtert, und es gab zwischen uns keine Meinungsver schiedenheiten über die schrittweise Lösung der Abrüstungsfrage.“ Auf die Frage, ob er den Prozeß der Freilassung von Dissidenten für schnell genug halte, sagte Sacharow: „Es ist ein schrittweiser Prozeß. Ungefähr hundert sind bereits frei. Das ist ein riesiges Ereignis und sehr wichtig für uns. Der Demokratisierungsprozeß in der Sowjetunion ist höchst wichtig für unser Land. Ohne ihn ist Entwicklung unmöglich. Er ist auch für die ganze Welt wichtig.“ Vor der Begegnung mit Sacharow hatte die Regierungschefin am vierten Tag ihres UdSSR–Besuchs ein Gespräch mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Ryschkow geführt. Ebenfalls am Dienstag wurden im Kreml vier britisch–sowjetische Abkommen unterzeichnet. Einer Vereinbarung zufolge soll der „heiße Draht“, der 1967 zwischen London und Moskau eingerichtet wurde, leistungsfähiger werden und künftig auch das Übermitteln von Fotos und Grafiken erlauben. Weiter wollen die UdSSR und Großbritannien gemeinsam Weltraumforschung betreiben, wobei die Möglichkeit besteht, daß beide Länder im kommenden Jahrzehnt gemeinsam eine Raumsonde zum Mars schicken. Ferner kamen Briten und Sowjets überein, daß beide Länder Mitte der 90er Jahre in London und Moskau neue Botschaftsgebäude beziehen können. Das vierte Abkommen sieht einen umfangreicheren Austausch auf kulturellem Gebiet vor. Die sowjetische Parteizeitung Prawda hatte gestern in vollem Wortlaut die scharfe Rede veröffentlicht, die Thatcher am Montag abend bei einem Essen mit KPdSU–Generalsekretär Michail Gorbatschow gehalten hatte. Sie hatte unter anderem erklärt, daß der Westen umso mehr an freundschaftliche Beziehungen mit der UdSSR glaube, je mehr politische Gefangene aus den sowjetischen Gefängnissen entlassen würden und die UdSSR sich aus Afghanistan zurückziehe. Auch ihre Äußerung, daß die Sowjetunion im Bereich der Kurzstreckenraketen in Europa eine überlegenheit von neun zu eins habe, wurde abgedruckt. Gorbatschow hatte Thatcher in ähnlich scharfer Weise vorgehalten, daß im Westen viel über Freiheit geredet werde. Wenn aber ein Volk wie in Nicaragua, im Nahen Osten oder in Afrika einen anderen Weg wähle, werde er durch „Dollar, Raketen oder sogar durch Söldner versperrt“. Zudem strebe Moskau eine politische Lösung des Afghanistan–Konflikts an. Trotz dieser direkten Aussagen wurde der rund neunstündige Meinungsaustausch von beiden Seiten insgesamt „positiv“ bewertet. In britischen Kreisen hieß es, es sei auch Übereinstimmung über einen baldigen Abschluß eines Abkommens über die Beseitigung von Mittelstreckenraketen in Europa erzielt worden. Gestern abend traf Thatcher nochmals zu einem Abendessen mit Gorbatschow zusammen.
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