: Die Sprache der Ohnmacht
„Innenpolitik ist die Kunst, die Aggressionen zu neutralisieren, die die Herrschaft bei den Beherrschten auslösen.“ Der Ethno– Psychoanalytiker Mario Erdheim beschreibt damit die hohe Kunst der Entpolitisierung, der „gesellschaftlichen Produktion von Unbewußtheit“. Regierungsparteien, die es für notwendig halten, eine parlamentarische Debatte „Gegen Gewalt und Rechtsbruch in der politischen Auseinandersetzung“ (Entschließungsantrag der CDU/CSU/FDP vom 31.3.87) zu inszenieren, haben die Kunst der Neutralisierung von Aggressionen verlernt oder stehen im Wahlkampf, oder es trifft beides zu. Wahlkampfzeiten mobilisieren in Gruppen oder Parteien, die Macht ausüben, Angst vor Machtverlust. Der Feind Dies bedeutet, daß die Gruppe und ihre Mitglieder ihre innere Identität, Gefühle der Sicherheit, Verläßlichkeit und Vertrauen verlieren und solange von destruktiven Kampf– und Fluchttendenzen beherrscht werden, bis eventuell ein innerer oder äußerer Feind geortet wird, dem die Destruktivität aufgeladen werden kann, um den vorwiegend unbewußten inneren Zusammenhalt wiederherzustellen. Diese zeitweise „Entgleisung“ der Produktion von Unbewußtheit in eine destruktive Regression läßt sich zum Beispiel an der Sprachkultur politischer Debatten verfolgen. Am 4.7.1986 debattierte der Bundestag in einer aktuellen Stunde die von den Grünen auf ihrer Bundesversammlung am 18. und 19.5.86 beschlossenen Forderungen auf dem Gebiet der inneren und äußeren Sicherheit, des Rechts und der Wirtschaft; also zentrale Themen, sozusagen lebenswichtige Themen des bundesrepublikanischen Selbstverständnisses. Richtet man sein Interesse weniger auf die bewußte Argumentation, sondern auf die Zwischentöne, die Zwischenrufe, die Gefühlsausdrücke und Metaphern (denn Metaphern reden nicht über Gefühle oder Gedanken, sondern sie verkörpern sie, machen Gedanken erlebbar), so gewinnt man den Eindruck, daß der „Konsens aller Demokraten“ von vernichtender Destruktivität bedroht ist. Die Metaphern Es wird „geschlagen“, „geprügelt“, „bedroht“, „terrorisiert“, „diffamiert“, „gefressen“, „exekutiert“, „vergewaltigt“, „gemordet“, „bespitzelt“ und „gekämpft“. Beliebtes Vokabel auf der Regierungsseite ist das „Chaos“, das von grün bis „tiefrot“ eingefärbt ist. Es wird sich „politische Unzurechnungsfähigkeit“ attestiert, „Neurosen“ diagnostiziert. Die Argumente des politischen Gegners mit Krankheits–Metaphern zu belegen, ist eine beliebte, weil therapierbar anmutende Form der Entwertung. Warum, so könnte man sich fragen, vermag eine Partei, „die ein wirrer Zeitgeist ins Parlament spülte“ (Klein/CSU), so viel Aggressivität hervorrufen? Im Entschließungsantrag der Regierungsparteien vom 31.3.87 heißt es: „Wer bei Demonstrationen Gewalt übt, beschädigt unsere Freiheitsordnung in ihrem Kern“ und „eine Polarisierung unserer Gesellschaft soll verhindert werden“. Der Kern, das öffentliche Selbst, fühlt sich bedroht. Die Ohnmacht So irreal dies erscheinen mag - aber propagandistisch wirksam -, so real ist es auch, allerdings wohl eher auf der unbewußten Ebene: Ich meine, daß seit Tschernobyl eine Veränderung des kollektiven Bewußtseins eingetreten ist. Das industriell–technokratische Herrschaftsbewußtsein hat eine tiefgehende Kränkung und Verletzung seiner omnipotenten Überzeugung von „Machbarkeit“ erlitten. Ausgebreitet hat sich ein Gefühl hilfloser Ohnmacht. Als Psychotherapeut lernen wir, daß eine Form, mit solchen Ohnmachtsgefühlen fertig zu werden, der Ausbruch ungezügelter Wut und Destruktivität sein kann. Wie heißt es im Entschließungsantrag? „Erforderlich ist die fortgesetzte Erforschung der Ursache der Gewalt.“ Vielleicht sollte man damit im Parlament beginnen und nicht auf der Straße. Gustav Bovensiepen, Psychoanalytiker
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