Brisante Studie zu Mißbildungen

■ Bundesweite Untersuchung über Trisomie 21 vorgelegt / Indizien sprechen für einen Zusammenhang zwischen gehäuften Mißbildungen und Tschernobyl / Erhöhte Trisomie–Quote in Süddeutschland

Von Manfred Kriener

Berlin (taz) - Zum möglichen Zusammenhang zwischen Mißbildungen bei Neugeborenen und der Strahlenbelastung durch Tschernobyl hat das Humangenetische Institut Berlin gestern eine bundesweite Untersuchung vorgelegt. Brisantes Ergebnis: Im August, vier Monate nach Tschernobyl, ergaben die Fruchtwasser–Untersuchungen, die jeweils vier Monate nach der Befruchtung durchgeführt werden, die höchste Rate an Trisomie 21 (umgangssprachlich: Mongolismus genannt). Auffällig war auch die Verteilung der Trisomie–21– Fälle: Die Studie weist auf eine Häufung in den durch den Tschernobyl–Fallout stärker belasteten süddeutschen Regionen hin. Die Untersuchung war vom Berliner Humangenetiker Karl Sperling initiiert worden, nachdem in Berlin im Januar dieses Jahres - neun Monate nach dem Super–GAU - zehn Babys mit Trisomie 21 auf die Welt gekommen waren. Nach dem statistischen Durchschnitt der letzten sieben Jahre wären nur zwei Fälle zu erwarten gewesen. Daraufhin wurden bundesweit Daten aus 40 Laboratorien erhoben, die im vergangenen Jahr 28.773 vorgeburtliche Fruchtwasseruntersuchungen durchgeführt hatten. Dabei wurden 393 Abweichungen vom normalen Chromosomensatz festgestellt, darunter 237 Fälle von Trisomie 21. „Für keinen der Monate“, so die Studie, „ergibt sich ein signifikanter Unterschied in der Häufigkeit der Trisomie–21– Fälle. Der August (1,7 Prozent Mißbildungsrate, d.Red.) weist einen recht hohen Wert auf, sogar den höchsten aller Monate bezogen auf sämtliche Chromosomenanomalien. Die Konzeption dieser Fälle (Befruchtung - d.Red.) fiel in die Zeit der besonders hohen Strahlenbelastung.“ Fortsetzung auf Seite 2 Für Trisomie 21 ist die Rückrechnung auf die Befruchtung von zentraler Bedeutung, da diese Chromosomenanomalie bei der Reifeteilung entsteht. In der Studie heißt es dazu: „Der höchste Betrag mit neun Fällen von Trisomie 21 fällt (rückgerechnet auf den ersten Tag der letzten Regel, d.Red.) in die Woche vom 14. bis 20. April, die Woche zuvor ist mit acht Fällen ebenfalls auffallend hoch. Der Zeitpunkt der Konzeption (Befruchtung) dürfte hier weitgehend mit dem der stärksten Strahlenexposition zusammenfallen. Diese Befunde deuten auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der non– disjunction–Rate (Fehlverteilung von Chromosomen, d.Red.) und dem Anstieg der Strahlenbela stung hin, sind aber für sich allein selbstverständlich nicht beweiskräftig.“ Noch signifikanter sind die Ergebnisse der Studie in bezug auf die geographische Verteilung der Mißbildungen. Bei genauer Auswertung der 17 Trisomie–21– Fälle, deren Befruchtung in den Zeitraum erhöhter Strahlenbelastung fällt, kommt die Studie zu dem Ergebnis, daß 15 Fälle im süddeutschen Raum diagnostiziert wurden und nur jeweils ein Fall in Schleswig–Holstein und Niedersachsen. „Die stärker strahlenbelasteten Gebiete weisen somit für den kritischen Zeitraum besonders viele Trisomie–21– Fälle auf. Dies kann als ein Indiz - jedoch nicht mehr - für eine mögliche Dosis–Effekt–Beziehung angesehen werden.“ In seiner Bewertung der Untersuchung bleibt das Humangenetische Institut sehr vorsichtig. Alle Überlegungen können „derzeit nur spekulativ sein“, heißt es in der Bewertung. Gleichzeitig wird eine internationale Erhebung aus unterschiedlich belasteten Großräumen Europas gefordert. Die Studie nennt keine Vergleichs– oder Durchschnittszahlen. Wie gering die Trisomie–21– Zahlen voneinander abweichen, zeigen folgende Beispiele: Der höchste Wert wurde mit wöchentlich neun Fällen in der dritten Aprilwoche angegeben. Im Januar 86 und im September 85 gab es aber ebenfalls jeweils zwei Wochen mit acht bzw. sieben Fällen von Trisomie 21. Das Bundesumweltministerium sieht in der Studie „keinen wissenschaftlichen Beweis“ für den Zusammenhang zwischen Strahlenbelastung nach Tschernobyl und Mißbildungen bei Neugeborenen.