: Die ersten Schwalben nach 68 in Prag
■ Rechtzeitig zum Gorbatschow–Besuch in der CSSR interviewten wir den Sprecher der Charta 77, Jaroslav Sabata / Die demokratische Opposition in der CSSR formiert sich und setzt auf eine Transformation von „oben“ und „unten“ / Von Gorbatschow wird viel erwartet - auch in der CSSR
Jaroslav Sabata, Mitglied im Sprecherkollektiv der Charta 77, gehörte vor 1968 dem Brünner Sekretariat der KPC an und wurde auf dem später für illegal erklärten Parteitag vom August 1968 ins Zentralkomitee gewählt. Er war der einzige, der sich auf der historischen Sitzung des ZK gegen die Annahme der Vereinbarung aussprach, die die Dubcek–Führung in Moskau ausgehandelt hatte. In den siebziger Jahren wurde er wegen seines demokratisch–sozialistischen Engagements zweimal zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Sabata gehörte zu den Erstunterzeichnern der Charta 77. Im Westen wurde er durch seinen Briefwechsel mit E.P. Thompson bekannt. Seine Überlegungen zur Weiterentwicklung des KSZE–Prozesses haben auf den bisherigen Ost–West–Dialog nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Sabata war ursprünglich Professor für Psychologie und Philosophie, er lebt heute in Brünn. Christian Semler hat ihn interviewt. taz: Nach einer „Erkältungspause“ ist Michail Gorbatschow nun doch in Prag eingetroffen. Der Sprecherrat der Charta 77 hat einen Offenen Brief an Gorbatschow gesandt, der sogar entgegengenommen wurde. Wie ist die Stimmung bei der Charta 77, wie bei der Bevölkerung angesichts des hohen Besuchs? Jaroslav Sabata: Die Stimmungen sind natürlich verschieden. Auf jeden Fall sind aber diejenigen im Irrtum, die glauben, hier rühre sich nichts. In der Gesellschaft herrscht schon seit einigen Wochen ein Zustand angespannter Erwartung. Daß wir in dem erwähnten Brief an Gorbatschow die Forderung erhoben haben, der Vertrag über die sowjetischen Truppenstationierungen müsse überprüft werden, ist selbst symptomatisch für die Situation. Die damit zusammenhängenden Fragen werden auch nach dem Besuch in der Bevölkerung „weiterarbeiten“. Demokratisierung ist dynamischer Es ist jetzt viel die Rede von aufbrechenden Flügelkämpfen in der Führung der KPC. Der „konservative“ Bilak steht gegen den „Pragmatiker“ Strougal. (Ministerpräsident seit 1970) Knüpft Strougal jetzt an Elemente des Reformkurses von 1968 an? Indirekt ja. Man spürt bei Strougal, daß er konzeptionell weitergehen möchte. Hier gibt es einen deutlich sichtbaren Widerspruch zu Bilak. Ich unterstreiche sichtbar, denn jeder redet jetzt von diesem Konflikt, er ist Tagesgespräch auch unter sonst nicht sehr politisch interessierten Leuten. Alles spielt sich noch zwischen den Zeilen ab und in ideologischer Verhüllung, ist aber doch ganz greifbar. Eigentlich ist das kein neuer, sondern ein sehr alter Widerspruch, der sich allerdings gegenwärtig so sehr zuspitzt, daß seine Lösung nicht allzuweit entfernt ist. Er bestimmte die sechziger Jahre bei uns und ist heute auch in der Sowjetunion wirksam. Für welche Positionen stehen Strougal und Bilak. Man sagt häufig, daß Strougal als für die Ökonomie Verantwortlicher sich in einer Zwangslage befindet. Die Zeichen der Stagnation zwingen ihn zum Handeln. Jedenfalls ist der Regierungsapparat in einer anderen Lage als die Parteisekretariate. Man muß dort mehr die Tatsachen akzeptieren, kann sich nicht so ideologisch gegenüber der Wirklichkeit verhalten wie in der Partei. Vor einigen Tagen stand in einer Prager Zeitung zu lesen, daß die Umgestaltung jetzt Vorrang haben müsse vor der ökonomischen Beschleunigung. Ist das die Linie der Pragmatiker? Vielleicht. Mir scheint, daß dieser Slogan von der sowjetischen Entwicklung abgeleitet ist. Im Frühjahr 1985 war die sowjetische Losung „Beschleunigung“. Heute hat sich diese Losung „umgestaltet“ in die Losung der Demokratisierung. Das ist ein viel dynamischeres Konzept. Der Schwerpunkt wechselt von den sozial–ökonomischen Fragen, besser gesagt, einer sozialökonomischen Phraseologie zu den politischen Hauptfragen. Auch bei uns kann man diese Verlagerung des Schwerpunkts erkennen. Da wird häufig - auch von tschechischen Freunden - in Frage gestellt, ob es überhaupt möglich ist, daß sich Teile der in der herrschenden Struktur tätigen Funktionäre einem künftigen Reformprozeß anschließen können. Sie seien zu sehr mit dem Verrat des Prager Frühlings verknüpft, auch in ihren Karrieren. Das Argument ist ganz unproduktiv und auch unrealistisch. Keine Machtelite, auch unsere nicht, ist einig. Man muß die Differenzierungen zwischen den Interessenblöcken innerhalb der Partei sehen. Das trifft auch auf die jungen Leute zu. Die Partei hat heute 1,7 Millionen Mitglieder, überwiegend junge Leute. Das Argument, wonach das Gros Opportunisten seien, ist allzu vereinfacht. Alles und alle werden schließlich in einen Sog geraten, der Druck der Reformbedürfnisse wird sich auch in diesem Milieu durchsetzen. Kompliziert ist die Lage im ZK und vor allem im Parteipräsidium. Dort kann man sagen, daß alle wichtigen Leute in einem Boot sitzen. Aber gilt das ein für alle Mal? Wir hatten gesagt, daß es in der SU und auch bei uns die „klassische“ Unterscheidung zwischen konservativem und progressivem Flügel gibt bzw. geben wird. Der Konflikt zwischen diesen Flügeln kann nicht vermieden werden. Es wird argumentiert, die Mitglieder der Führung seien aneinandergekettet. Die fatale Vorstellung von diesem Aneinandergekettetsein ist - ich wiederhole es - das Nichtrealistische. Die Bedürfnisse der Gesellschaft und die Bedürfnisse der Machtelite - ihr Wille, die Macht nicht zu verlieren - werden sich durchsetzen. Konflikte existieren doch nicht nur in der Vorstellung einiger Leute - sie sind die gesellschaftliche Realität. Machtelite sucht neue Balance Ist die Machtelite nicht klug genug, um zu wissen, daß der Demokratisierungsprozeß einen Schwung entwickeln kann, der nur schwer an einem bestimmten Punkt zum Stillstand gebracht werden kann? Das heißt nicht, daß die Machtelite „so klug“ ist, überhaupt nichts zu ändern. Sie wird Veränderungen herbeiführen. Sie wird versuchen, eine neue Balance dadurch herzustellen, daß sie sich der Gesellschaft öffnet. Denn auch ihn der Gesellschaft gibt es Kräfte, die dieser Machtelite entgegenkommen werden. Es ist nicht so, daß den Leuten, die sich als reformwillig präsentieren, nur Gegnerschaft entgegenschlägt, daß man sie allein stürzen will. Schon für Strougal trifft das nicht zu. Obwohl man ihm gegenüber sehr kritisch eingestellt ist, wird man ihn, wenn er sich auf seiner Ebene als der Bessere zeigt, akzeptieren. Das Leben ist viel vielschichtiger als diese absolutisierte, ultrapessimistische Beurteilung der Lage. Es käme also darauf an, der Machtelite ihren künftigen Platz einzuräumen - nicht nur ein gemütliches Altersheim? Wir wollen das System transformieren, wir wollen es nicht zur Destruktion treiben. Wir wollen ein Bündnis der Kräfte, die „von oben“ kommen mit denen, die „von unten“ aufsteigen, damit wir eine neue Stabilität, besser eine wirkliche Stabilität ins Leben rufen können. Sagen wir, daß die Zusammenarbeit aller reformfreudigen Kräfte - wobei die Vorstellungen über die Reform sicher weit auseinandergehen - das erste Gebot einer vernünftigen Politik ist. Für eine solche Politik gibt es in unserer Gesellschaft auch genug Erfahrungen, so daß sie sich durchsetzen kann. Sie sprechen von einer Erwartungshaltung in der Bevölkerung. Die Okkupation 1968 hat sicher die ursprünglichen Sympathien für die Sowjetunion zerstört. Wie geht das mit der jetzigen Stimmung für Gorbatschow zusammen? Beides hängt eng zusammen. Es ist eine historische Trivialität, daß ursprünglich Tschechen und Slowaken eine sehr positive Einstellung zu den Russen bzw. zur Sowjetunion hatten (im Gegensatz zu den Polen und Ungarn) und daß diese Einstellung 1968 zerbrochen wurde. Wenn nun heute - u.a. auch seitens des Außenministers Chnoupek - gesagt wird, daß der Demokratisierungsprozeß in der Sowjetunion eine Welle der Sympathie unter unserer Bevölkerung für die Sowjetunion ausgelöst hat, so kann man dem nur zustimmen. Von Gorbatschow wird viel erwartet. Eben deshalb spreche ich von einer Erwartungsatmosphäre, die eine große Spannung in sich birgt. Wir können eine ansteigende Welle der Kritik an Husak in der Öffentlichkeit beobachten, eine Kritik, die sich auf öffentlichen Foren freilich noch nicht durchsetzt. Der Husak–Führung wird vorgeworfen, sie unterlasse es, den neuen Spielraum zu nutzen. Im Milieu der Schauspieler, Künstler und Wissenschaftler ist man genau über die Ereignisse informiert, die zur Wende in der sowjetischen Kulturpolitik geführt, die die Atmosphäre verändert haben. Man fragt - zum Teil schon öffentlich - ob mit unserer verkrusteten Kulturpolitik fortgefahren werden soll. Unter den Arbeitern ist die Stimmung viel kritischer als selbst noch vor einigen Wochen. Es gibt den Brief einer Gruppe von Arbeitern, die den Rücktritt Husaks gefordert haben. Die ersten Schwalben. Die Menschen haben sich hier schlecht eingerichtet, aber immerhin eingerichtet. Gilt noch ein Vertrag, der lauten könnte: „Laßt uns in Ruhe, dann lassen wir Euch in Ruhe“? Diese Rede vom Gesellschaftsvertrag höre ich sehr ungern. Eine Metapher, die nichts besagt. Es existiert eine Koalition von Kräften, die den Status Quo erhalten möchte. Leute aus den Parteiapparaten, Wirtschaftsfunktionäre. Es gibt auch Schichten unter den Arbeitern, die sich ungern bewegen. Aber gerade hier überwiegt die Mischung aus steigender Unzufriedenheit und steigender Erwartung. Würde eine wirkliche Politik der demokratischen Reformen eingeleitet, so könnte sie mit der Unterstützung der Mehrheit rechnen. Das weiß auch die gegenwärtige Führung. Gibt es auf der Seite der Reformkommunisten konkrete Vorstellungen und Zielsetzungen? Trotz gewisser Kommunikationsschwierigkeiten wird die Grundorientierung immer klarer: Wir müssen einen Demokratisierungsprozeß des „sowjetischen Typus“ in Gang setzen und ähnliche Schritte unternehmen wie die Sowjetunion heute. Grob gesagt muß das Ziel darin bestehen, die Funktionärsschichten unter die Kontrolle der Gesellschaft zu bringen. Es soll Arbeiterräte geben Konkrete Forderungen, ein „kleines Aktionsprogramm“? Man sollte nicht allzu doktrinär denken, etwa, daß es schon ganz festgefügte, hundertprozentig ausgearbeitete Programme gibt, die es nur noch in die Tat umzusetzen gilt. Es gibt Initiativen seitens der Ex–Reformkommunisten aber auch seitens Offizieller. Vor einem Jahr noch war die Frage nach den Arbeiterräten ein Tabu. Das war Revisionismus. Auch jetzt ist der Ton vorsichtig, aber es wird klar, daß es Arbeiterräte geben soll. Auch solche Initiativen beeinflussen das Klima. Zurück zur Charta 77. Sind die demokratischen Kräfte noch in einer Situation der gesellschaftlichen Selbstverteidigung oder können sie einen Schritt weiter gehen? Eine Phase der eigenen Selbstverteidigung ist das, was jetzt vor sich geht, nicht mehr. Seit dem Brief der Charta vom Januar dieses Jahres, als wir die Mitbürger aufforderten, ihren Mund aufzumachen, ist die demokratische Bewegung vorangerückt. Wir sprechen noch nicht von demokratischer Opposition, aber sie existiert bereits. Wie sollten die gemeinsamen Aufgaben der Charta bestimmt werden angesichts der sich differenzierenden politischen Auffassungen? Keine leichte Frage. Für die oppositionellen Kräfte ist es immer noch sehr wichtig, eine gemeinsame Sprache zu finden, obwohl das oft als unmöglich angesehen wird. Man spricht davon, daß die Linksorientierten mit den Rechten nicht unter einem Dach leben könnten usw. Was ist unser gemeinsames Ziel? Wenn wir diese Frage konkret anpacken, so wird klar, daß es letztlich um dasselbe geht wie in Polen 1980/81; um eine sich selbst verwaltende Demokratie. Die Polen sprachen von der selbstverwalteten Republik. Auch in der Sowjetunion wird heute von der Selbstverwaltung des Volkes gesprochen. Das ist eine Phrase aus der Breschnew–Ära. Schon, aber die Akzente sind neu. Wenn wir in der demokratischen Orientierung in der Opposition übereinstimmen, werden wir die jetzt ans Tageslicht tretenden Fragen gemeinsam lösen können. Glauben Sie, daß sich im Gefolge des Gorbatschow–Besuchs der Manövrierraum der Charta erweitern wird? Nach wie vor stehen eine Reihe politischer Prozesse an. Dieser Raum wird nach dem Gorbatschow–Besuch kaum enger werden. Die Konservativen in der Parteiführung wollten und wollen Zeichen setzen. Es geht um den Prozeß gegen den Geistlichen Jan Dus, vor allem geht es um den Prozeß gegen Peter Pospichal, einen jungen Arbeiter aus Brünn, der gute Beziehungen zur Solidarnosc hat und in Polen sehr beliebt ist. Er ist gewissermaßen an der Kante der Ereignisse, fünf Tage vor dem Januarplenum der KPdSU verhaftet worden. Sein Prozeß ist verschoben, aber die Gefahr der Verurteilung nach wie vor groß. Das ist ein Prüfstein. Die Regierung wird sich profilieren können, wenn sie hier den rechtsstaatlichen Weg einschlägt. Es git die Frage, warum Gorbatschow überhaupt in die CSSR fährt. Man sagt, er hätte schon genug Probleme am Hals. Braucht Gorbatschow die Unterstützung durch einen Demokratisierungsprozeß in der CSSR - einschließlich der Gefahren, die damit verbunden sein können? Überwiegt die Sorge vor Instabilität an der Peripherie oder die Hoffnung, daß ein Demokratisierungsprozeß in der CSSR auch den Prozeß in der Sowjetunion stützen würde? Ich würde eher der optimistischeren Variante zustimmen. Ich habe keine Sorge, daß es in der tschechoslowakischen Machtelite nicht genügend Verbündete Gorbatschows gäbe, und daß sie sich nicht früher oder später durchsetzen würden. Das Interview führte Christian Semler
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