: Paradoxe Fronten
James Markham verstand die Welt nicht mehr. Der konservative Bonn–Korrespondent der New York Times versuchte für seine Zeitung die Bedeutung der diesjährigen Ostermärsche zu analysieren, in denen die jüngsten Pläne für einen Abzug der Pershing II und Cruise Missile–Mittelstreckenwaffen eine wichtige Rolle spielten. Da die US–Administration diesen Plänen positiver gegenübersteht als die Kohl–Regierung in Bonn, glaubte Mister Markham eine neue Allianz ausmachen zu können: „Ronald Reagans Enthusiasmus für eine Abschaffung von Mittelstreckenraketen in Europa hat ihn in der Frage der Abrüstung zu einem Verbündeten der Demonstranten gemacht.“ Nicht nur für den New York Times–Korrespondenten ist in der Welt der Raketenzählerei einiges durcheinander geraten; seit Außenminister Shultz mit weiteren sowjetischen Konzessionen aus Moskau zurückgekehrt ist, wird in Washington zum ersten Mal seit dem mißglückten Gipfel von Reykjavik wieder über Rüstungskontrolle und die Strategie des NATO–Bündnisses debattiert. Mit Staunen wird vor allem registriert, wie sich in Europa eine Ablehnungsfront gegen die sogenannte „Null–Null–Lösung“ formiert, durch die nicht nur die Mittelstreckenwaffen, sondern auch die sowjetischen Kurzstreckenraketen auf dem Schrotthaufen landen würden. Ob ein weitgehend entnuklearisiertes Europa eine gute Idee sei, wird in allen politischen Lagern diskutiert. Das Verhalten des rechten Randes der Republikaner dürfte dabei zum Prüfstein für die Reagan verbliebene Loyalität in seiner eigenen Partei werden. Potentielle Schwierigkeiten könnten die Hardliner im Senat ihrem Präsidenten bei der Verifizierungsfrage eines Abkommens machen. Es gebe zwischen 40 und 400 „versteckter“ SS–20–Geschosse, murrt man im Kongreß, über deren Verbleib gegenwärtig niemand Bescheid wisse. Dennoch wird davon ausgegangen, daß die eigene Partei Reagan bei seinem Bemühen, seine Amtszeit mit einem Rüstungskontrollabkommen abzuschließen, noch am wenigsten Schwierigkeiten machen wird. In den Chor der Warner hat sich am Dienstag jedoch auch der demokratische Mehrheitsführer im Senat, Robert Byrd (West–Virginia) eingereiht, als er in einer Rede vor einem Abkommen warnte, das „kosmetisch attraktiv“ sei, aber letztendlich „gegen den Zusammenhalt und die Standhaftigkeit des westlichen Bündnisses wirkt“. Damit ein Abkommen vom Senat ratifiziert werden könne, müsse es „unsere nationale Sicherheit fördern und Europa sicherer machen. Es muß den politischen Konsens im Bündnis sichern.“ Diese Überlegung schob auch der ehemalige Sicherheitsberater Präsident Fords, Brent Scowcroft, in den Vordergrund. Er warf den Befürwortern eines Abkommens, die wie z.B. Paul Nitze darauf verweisen, daß die Sowjets doch in viel größerem Umfang Raketen verschrotten müßten, „Erbsenzählerei“ vor. Ein „entnuklearisiertes Europa“, so sein Einwand, berge perspektivisch erhebliche strategische Risiken und schüre die westeuropäischen Ängste vor einer US–amerikanischen Abkopplung von der europäischen Verteidigung. Stefan Schaaf
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