: Kein Glasnost für russische Juden
■ Der Kenner russischer Literatur und ehemalige KPI–Funktionär Vittorio Strada schrieb im Corriere della Sera über einen Antisemitismus–Streit in der Sowjetunion
Berlin (taz) -Im Samisdat ist ein kleiner Briefwechsel zwischen Natan Eidelman und Viktor Astaviev erschienen, der großes Aufsehen erregt hat. Eidelman (geb. 1930) ist einer der besten Kenner der russischen Kultur– und Literaturgeschichte, hervorgetreten durch Arbeiten über Herzen und vor allem Puschkin. Eidelman ist Jude. Sein Kontrahent Astaviev (geb. 1924) gilt als einer der bedeutendsten lebenden Schriftsteller der Sowjetunion. Sein bestes Buch, so Strada, ist Zar Fisch, sein berühmtestes der Traurige Detektiv, das von der russischen Kritik zur Literatur der „perestrojka“ gerechnet wird. Astaviev ist Russe. Mehr noch: Ultrarusse, „Repräsentant einer diffusen intellektuellen Tendenz in der UdSSR, die sich zum Ziel gesetzt hat, nach 70 Jahren Sowjetunion eine nationale russische Identität wiederzufinden. Eidelmans Brief (die Korrespondenz fand Ende letzten Jahres statt) hebt die deutlich nati Ideal der gesunden Familie und einer starken Herrschaft setzt. Am erschreckendsten sind seine Äußerungen zum Mord an der Zarenfamilie. Astaviev erklärt ihn zur Tat „einiger Letten und Juden, die vom durchtriebenen Erz–Zionisten Jurkowsky angeführt wurden“. Die Juden seien in den Lagern „auch wegen der Verbrechen Jurkowskys und durch den Willen des richtenden Gottes geendet“. Eidelmans Erwiderung ist von bitterer Kürze: Er stellt die historischen Fakten um den Mord an der Zarenfamilie richtig und sieht sich durch Astavievs Ausfälle in seiner Maxime bestätigt, daß sich das russische Volk zunächst einmal „innerlich befreien“ muß. Vittorio Strada schließt mit der Bemerkung, daß in beider Korrespondenz „der Kern der jüdischen und der russischen Frage“ berührt werde. Er beschwört die große demokratische Tradition des vorrevolutionären russischen Denkens, das jeden Antisemitismus von sich wies und das Rußland als komplexe Einheit begriff, in der Russen und Juden miteinander leben können.
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