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Ramadan: Fasten und Feiern im Lager Chatila

■ Nach sechs Monaten Lagerkrieg und Hunger begehen die Bewohner des Palästinenserlagers den moslemischen Fastenmonat / Das Einkaufen für die abendlichen Festessen bleibt ein Problem, da Männer und politisch aktive Frauen das Camp nicht verlassen dürfen

Aus Beirut Petra Groll

Brusthohe Stahlgitter reichen quer über die Straße bis zu den ersten Ruinen des Palästinenserlagers Chatila im Süden Beiruts. Am Durchgang der Sperre ein klappriger, ausrangierter Küchentisch, auf dem die Frauen aus dem Lager bei der Rückkehr ihre Einkäufe ausbreiten und ihre Identitätspapiere vorzeigen müssen. Dann ist der Checkpoint am „Cinema Sharq“, der einzige, von Soldaten der syrischen „Sicherheitstruppen“ kontrollierte Zugang nach Chatila, überwunden. Manchmal wird bei der Kontrolle jede einzelne Packung geöffnet. Manchmal scheint die Soldaten nichts zu interessieren. Ein andermal wollen sie von jeder Frau wissen, was sie im Lager zu suchen hat. In der vergangenen Woche meldete das Volkskomitee von Chatila, eine Krankenschwester sei auf dem Rückweg ins Lager verhaftet worden. Ausgerechnet am Checkpoint waren Munitionskugeln aus ihrem Büstenhalter den Soldaten direkt vor die Füße gerollt. Die Frau tauchte bislang nicht wieder auf. Politisch aktive Frauen und Männer dürfen nach genau einem Monat Waffenstillstand im „Lagerkrieg“ das Camp weder verlassen noch betreten. Gleich hinter der Eingangssperre hocken die Palästinenser, den größten Teil ihres Tages zur Untätigkeit verdammt, und warten auf die Frauen, die alle Geschäfte erledigen müssen. Flirts und Festessen Am Knotenpunkt der Gassen, vor der zerschossenen Moschee im Herzen Chatilas hocken ein halbes Dutzend Frauen auf geborstenen Betonblöcken, auf dem Dach eines Nachbarhauses eine Runde Männer. Frühlingsflirt und Artigkeiten fliegen zwischen den Gruppen hin und her. Die Sonne ist fast verschwunden, und in Chatila werden Gaslaternen, Petroleumlampen und Kerzen angezündet. Köstlicher Duft von gebratenem Fleisch und Fisch zieht über das Camp und läßt den ätzenden Kriegsgestank vergessen. Gekocht wird auf Holzfeuern und Gasherden. Um 19 Uhr 15 knattert die Stimme des Muezzin aus der Tonbandkonserve, die Gläubigen dürfen jetzt essen und trinken. Es ist Ramadan, der traditionelle Fastenmonat der Moslems. Gleich nach Sonnenuntergang wird das „iftar“ gegessen, die einzige, aber besonders reichhaltige und festliche Malzeit des Tages. Lange vor Ende des Gebetes ist jede Menschenseele von der Straße verschwunden. Fast alle Bewohner Chatilas halten den Ramadan ein, auch Mitglieder von Linksparteien, die den Glauben längst abgeschrieben haben. Hunger und Durst treiben jetzt zur Windeseile. Die Palästinenserin Umm Amal hat Truthahnbrust geröstet und junge Bohnen gedün stet, Umm Youssef hat gefüllte Weinblätter vorbeigebracht, eine andere Nachbarin hat ein Schälchen von der hausgemachten Auberginenpaste beigesteuert. Der Tisch, ein riesiges Aluminium– Tablett, das in der Mitte des Zimmers auf dem Fußboden ruht, ist reich gedeckt. Die vaterlose Familie hockt auf ebener Erde, die Polstermöbel in Umm Amals guter Stube sind noch naß. Am Morgen hat es geregnet und in der Decke klaffen zwei große Artillerie–Einschußlöcher. Gegessen wird schweigend und hingebungsvoll. Erst bei Kaffee und Süssigkeiten kommt ein Gespräch auf. Nach den Monaten der Belagerung, in denen die Bewohner Chatilas jeden Abend hungern mußten, scheint das freiwillige Fasten paradox, doch Umm Amal verteidigt den Ritus. Es sei eine gute Tra dition, und schließlich esse man niemals so gut wie während des Ramadans. Ja, während des „Lagerkrieges“ habe sie häufig an der Existenz Allahs gezweifelt, wenn sie sich so ganz und gar von Gott und der Welt verlassen gefühlt und an nichts als den Tod gedacht habe. Jetzt aber sei der Spuk schließlich vorbei und „Inschallah“, so Gott will, könne in der nächsten Zeit mit dem Wiederaufbau begonnen werden, werde die Straße endlich für alle geöffnet. Bisher wird allerdings keine Genehmigung für die Lieferung von Bau– und Reparaturmaterialien in das Lager erteilt. Nach 15 Monaten Belagerung und sechs Monaten Krieg wären ein paar Tage Urlaub dringend nötig. Wieder andere Gesichter sehen vor allem, die Berge oder das Meer, richtige Häuser und fahrende Autos. Nach der langen, langen Zeit des Durchhaltens sei jetzt die Zeit der Politiker gekommen, meint Umm Amal, und blickt mit warmen Lächeln über ihre Schulter an die Stirnwand des Zimmers, wo ein überlebensgroßes Portrait von PLO–Chef Arafat seinen Ehrenplatz hat. In der oberen Ecke des goldverschnörkelten Rahmens klebt ein Foto des jungen Ali–Abu– Tok, des Militär–Chefs von Chatila, der im Januar von einem Artillerie–Geschoß getroffen wurde.“ Nach dem Mocca löst sich die abendliche Essensrunde auf, Umm Amals Töchter überprüfen der Reihe nach ihre Gesichter im Spiegel, Hamouda steckt das Taschenradio ein, es geht zur Moschee, die in der Dunkelheit der einzige Treffpunkt der Jugendlichen ist. In den Gassen herrscht jetzt reges Treiben, allenthalben flakern die Taschenlampen auf, die Nachbarn besuchen sich gegenseitig. Männerklüngel, Parteidiskussionen, Stunde der Mütter. Umm Amal räumt die Speisereste ab, fegt den Raum aus und breitet die Schaumstoffmatten für das Familienbett aus. Gerade ist ein neuer Topf des mit Cardamom parfümierten Kaffees gebraut, da kommt auch schon die erste Nachbarin, Umm Youssef. Bald sitzen fünf Frauen auf dem Nachtlager und planen das iftar für den kommenden Abend, damit sich auch morgen das Tauschen von Küche zu Küche lohnt. Den Töchtern, die Einkaufen und Schmuggeln geradezu als Sport ansehen, müssen die Aufgaben für den nächsten Morgen zugeteilt werden. Die Stunden, bis der Muezzin zum ersten Gebet ruft und damit das Ende der Essenszeit gekommen ist, vergehen mit Klatsch aus dem Lager. Umm Amal hat freudige Nachrichten beizusteuern: Hamouda hat ihrer Mutter heute gestanden, daß sie sich in einen der jungen Männer Chatilas verliebt und jetzt nichts anderes im Kopf hat, als möglichst schnell eine Unterkunft zu schaffen und zu heiraten. Mit dem Geld, das die PLO in diesen Tagen an die rund fünfhundert Familien verteilt hat, wäre der Start in die Zukunft auch durchaus zu finanzieren. Dann wäre auch die letzte ihrer Töchter an den Mann gebracht, meint Umm Amal, sie wäre eine Sorge los und das Lager um eine zukünftige Familie reicher geworden. Neben all den Träumen von Reisen und Auswanderung, die wohl die Mehrzahl der kriegsmüden Bewohner nach der letzten, noch kaum beendeten Schlacht um Chatila hegen, eine geradezu traumhafte Romance.

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