Die Wüste lebt

■ Cannes zur Halbzeit: Die bisher besten Filme kommen aus England

Das wichtigste Kinoland auf diesem Festival ist nicht Amerika, nicht Italien, nicht Frankreich, Deutschland sowieso nicht, sondern England. Dieser Aufschwung verdankt sich dem Fernsehen: Der private Channel Four ist durch seinen Status verpflichtet, Geld in die vor Jahren noch dürre Kinolandschaft zu pumpen, und siehe, es hat gefruchtet. Vielleicht kann man von so etwas wie einer englischen Kinokultur sprechen. Die Schauspieler und Regisseure kommen ja nicht vom Film, der in England quasi nicht mehr existiert, sondern vom Fernsehen und aus dem Theater. Daher vielleicht die Neigung zu Nahaufnahmen und Innenräumen. Wish you were here von David Leland ist das Drama des pubertierenden Menschen. Lindas erste sexuelle Erfahrungen mit Männern, ihre Enttäuschung, ihr Entschluß, als sie schwanger wird, das Kind zu kriegen, obwohl es sie als uneheliche Mutter sozial disqualifiziert (der Film spielt in den 50er Jahren und in der Provinz). Der Höhepunkt des Films ist rein theatralisch: Linda arbeitet in einem sehr feinen Cafe als Serviererin. Ihr Vater besucht sie. Das Cafe ist der einzige Ort, wo die ziemlich Freche und Jähzornige seinen Vorhaltungen nicht ausweichen kann. Tatsächlich reagiert sie zunächst abwiegelnd, dreht dann aber doch durch, wird laut, pöbelt die düpierten Gäste an, steigt auf einen Tisch und bekennt sich, in allerobszönstem Englisch, zu ihren sexuellen Gelüsten. Schön, wie ihr die distinguierte Cafehaus–Pianistin applaudiert. Prick up your ears von Stephen Frears ist das Drama einer homosexuellen Beziehung. Der Film beruht auf der wahren Geschichte Joe Ortens, der in den 60er Jahren ein gefeierter Londoner Theaterautor war. Joe ist der Jüngere und zunächst der Schwächere. Er profitiert von Kens Bildung. Aber Kens Projekte scheitern, und Joe macht Karriere als Autor. Ken wird eifersüchtig, am Ende erschlägt er den schlafenden Freund und nimmt Schlaftabletten. Ken und Joe haben sich in der Royal Academy of Dramatic Arts kennengelernt. Man sieht Joe bei seiner Sprecherziehung und lernt etwas über die Differenziertheit des Englischen, und man sieht Ken bei einer Pantomime–Übung. Die Studenten müssen mit einer imaginären Katze spielen. Er streichelt die Katze, die Katze beißt ihn, er ärgert sich und erwürgt das Tier, das ausdauernd Widerstand leistet. Dann legt er den Kadaver in die Hände der Lehrerin und geht ab. Die Schauspieler führen vor, was sie gelernt haben: Theaterspielen. Thierry Chervel