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Radio enthüllt Polizeiprovokation

■ Ein vom Berliner alternativen „Radio 100“ gesendeter Polizeifunkmitschnitt beweist, daß die Berliner Polizei am vergangenen Wochenende auf Jagd gegangen ist / Erst drastische Strafe für Kreuzberg–Randale

Von Martin Wollenberg

Berlin (taz) - Knapp vier Wochen vor dem Besuch des amerikanischen Präsidenten in Berlin holt Innensenator Kewenig zum Rundumschlag gegen die „Kreuzberger Szene“ aus. Bei einer beispiellosen Massenfestnahme hatte die Polizei in der Nacht zum vergangenen Sonntag 70 Personen festgenommen. Für 20 von ihnen wurde Untersuchungshaft angeordnet. Drei Tage nach der eher geringfügigen Randale wurde völlig unerwartet ein Haftprüfungstermin zum Schnellgerichtsverfahren umfunktioniert und ein vom Schöffengericht selbst als „Mitläufer“ eingeordneter 22jähriger Mann zu einer Haftstrafe von einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung verurteilt. Der Angeklagte, der Samstag nacht mit zwei Promille Alkoholgehalt im Blut aufgegriffen worden war, konnte sich am nächsten Morgen an nichts erinnern. Dem Schöffengericht genügten für seine Verurteilung wegen sch Privatsender „Radio 100“ wurde am Montag ein Mitschnitt des Polizeifunks aus der Randalenacht zugespielt. Danach warnten die vor Ort eingesetzten Polizeibeamten mehrmals vor einer Provokation durch ihre Anwesenheit: „Hier eine typische Eskalation. Ohne Sinn wird Tränengas abgeschossen, kein Grund erkennbar, Wasser marsch ohne Sinn, hier geht jetzt die Eskalation von Seiten der Polizei. Bitte PFDE (“Polizeiführer des Einsatzes“, die Red.) sofort auffordern, diese Kräfte jetzt zurückzuziehen, das ist eine sinnlose Provokation durch die Polizei.“ Die Einsatzleitung folgte dieser Aufforderung nicht. Statt dessen wurde angeordnet, alle Ansammlungen von Personen aufzulösen, wenig später kam dann der Befehl zur Massenfestnahme: „Folgende Richtlinien vom Direktionsleiter: Auch Gruppen, die ihr auf der Straße seht, also alles, was auf der Straße ist, wenn möglich einfangen.“ Die Echtheit des Mitschnitts wurde inzwischen vom Berliner Innensenator bestätigt, allerdings seien die Passagen „aus dem Zusammenhang gerissen“. Gegen die Radiomacher wird inzwischen wegen des „Verdachts auf Verstoß gegen das Fernmeldeanlagengesetz“ ermittelt. Nach Berichten eines jungen Kreuzbergers, der zusammen mit einem am 1. Mai verletzten Polizisten im Krankenhaus lag, ist bei Besuchen von Vorgesetzten und Kollegen bereits Anfang Mai über die bevorstehende Samstagsoperation und die beabsichtigte Massenfestnahme gesprochen worden. Am Nachmittag vor der Randale haben nach Angaben von Kreuzbergern im Randbereich der späteren Auseinandersetzungen Panzerspähwagen Aufstellung genommen. Am frühen Abend sei die spätere Totalabsperrung des Viertels vorbereitet worden. Während des nächtlichen Polizeieinsatzes, der nach Darstellung der Polizei durch einen brennenden Bauwagen im Anschluß an ein Punkkonzert ausgelöst wurde, war der Berliner Innensenator in der Einsatzzentrale anwesend. Entgegen der von Kewenig proklamierten Polizeitaktik „Mehr Verantwortung für die Einsatzleiter vor Ort“ sind die Eskalationsbefehle am Samstag eindeutig aus der hochkarätig besetzten Einsatzzentrale gekommen. Auch die Feststellung von Straftaten findet im Reagan–nervösen Berlin nicht mehr vor Ort statt. In den letzten Wochen hat die Polizei umfangreiches Videomaterial angesammelt, mit dem am Samstag Festgenommene nun im Nachhinein überführt werden sollen. Mehreren der Inhaftierten wurden außerdem die Wohnungsschlüssel abgenommen und ihre Wohnungen nach Beweismaterial durchsucht. Kommentar S.4

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