AIDS: Absonderung in Einzelhaft

■ AIDS–Infizierter seit dreieinhalb Monaten in Einzelhaft / Schwere Vorwürfe seitens des Rechtsanwalts gegen das bayerische Justizministerium / Gesetzwidrige Ermittlungsmethoden / Haftverschonung abgelehnt

Aus Nürnberg Bernd Siegler

Schwere Vorwürfe gegen die Nürnberger Staatsanwaltschaft und das bayerische Justizministerium erhebt Karl–Heinz Becker, Anwalt des AIDS–infizierten US– Amerikaners, der seit nunmehr dreieinhalb Monaten in Nürnberg in Einzelhaft sitzt. Dem 45 Jahre alten pensionierten Soldaten der US–Army wirft die Anklagebehörde vor, durch ungeschützten Geschlechtsverkehr in vier Fällen den Versuch gefährlicher Körperverletzung begangen zu haben. Die lange Untersuchungshaft, so Becker, komme faktisch einer Absonderung des Infizierten gleich, wie im bayerischen AIDS–Maßnahmenkatalog vorgesehen. Am 5. Februar war der Ex–Soldat vor seiner Wohnung unter Androhung von Schußwaffengebrauchs verhaftet worden. Vorher waren Ärzte durch den Ermittlungsrichter des Nürnberger Amtsgerichts als Zeugen vernommen worden. Eine Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht lag dabei nicht vor. Damit wurden „gesetzwidrig Krankenunterlagen und Krankengeschichte“ des Betroffenen erlangt, konstatiert Rechtsanwalt Becker. Erst danach begann gar die Mordkommission der Kriminalpolizei Nürnberg mit der Ermittlung angeblich Geschädigter und möglicher Belastungszeugen. Ausgestattet mit Fotografien des Festgenommenen suchten sie einschlägig bekannte Nürnberger Lokale und Bordelle auf. Mit den Worten „der hat AIDS, jeder der mit ihm was gehabt hat, kann jetzt davon ausgehen, daß er auch AIDS hat“, versuchten sie Zeugen zu gewinnen. Den Wunsch der Kripo, die Bilder auch bei der AIDS–Hilfe und dem städtischen Gesundheitsamt aushängen zu dürfen, lehnten beide Stellen ab. Rechtsanwalt Becker nennt dies eine „massive Grundrechtsverletzung durch Ermittlungsmethoden - noch dazu mit dem alleinigen Ziel, mit diesen Methoden erst Belastungszeugen zu finden, um einen Tatverdacht zu begründen.“ Obwohl sein Mandant nicht vorbestraft ist, eine feste Wohnung besitzt und in geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen lebt, lehnten Staatsanwaltschaft und Landgericht es bisher ab, Haftverschonung unter Auflagen zu gewähren. Als Begründung wird Fluchtgefahr wegen der zu erwartenden hohen Strafe angeführt. „Egal in welcher Höhe, eine Kaution wird nicht akzeptiert“, schmetterte die Staatsanwaltschaft das Angebot erheblicher Sicherheitsleistungen ebenfalls ab. Für den Nürnberger Anwalt liegt es angesichts der Gesamtschau der Umstände auf der Hand, „daß eine Einflußnahme des Justizministeriums auf die Nürnberger Staatsanwaltschaft“ in diesem Präzedenzfall für die Verfolgung AIDS–Infizierter vorliegt. So wurde die Anklage wegen „versuchter gefährlicher Körperverletzung“ vor der 13. Großen Strafkammer des Landgerichts erhoben. Gemeinhin landen derartige Vorwürfe beim Einzelrichter eines Amtsgerichts. „Um die AIDS– Politik der bayerischen Staatsregierung propagandistisch zu unterstützen, werden mögliche Grenzfälle zwischen straflosem fahrlässigen Verhalten und dem sogenannten bedingten Vorsatz (billigendes Inkaufnehmen) zu angeblich schweren Straftaten hochstilisiert“, wertet der Anwalt den Anklagevorwurf. Noch lange bevor die Anklageschrift dem Amerikaner zugeleitet wurde, hatte sie schon der Bochumer Professor Dr. Rolf Dietrich Herzberg in Händen. Dies geht aus einem bisher unveröffentlichten Aufsatz für die Neue Juristische Wochenzeitschrift hervor. Die Anklageschrift wurde „entweder durch die Staatsanwaltschaft oder das Justizministerium unbefugt an Dritte weiter versandt“, konstatiert Becker. Der Adressat ist jedoch kein Unbekannter. Er trat bereits als Autor der vom Bayerischen Innenstaatssekretär Gauweiler herausgegebenen linientreuen Zeitschrift AIDS–Forschung auf.