Italiens Justiz kollabiert

■ Wegen eines Verfahrensfehlers sollen Hunderte von Prozessen in Italien annulliert werden 3.000 Angeklagte müssen auf freien Fuß gesetzt werden, weil Präsident zu Unrecht amtierte

Aus Rom Werner Raith

Mit einem Gesetzesdekret will Italiens Justizminister Virginio Rognoni „wenigstens das Schlimmste aus diesem Desaster verhindern“ - ein Desaster, das durch die Nachricht verursacht wurde, mehr als 400 Prozesse der vergangenen Jahre müßten annulliert werden, weil die rechtsprechenden Gerichte jeweils unzulässig zusammengesetzt gewesen seien. Das „Desaster“ besteht dabei nicht nur in einer Lawine von Prozeß–Neuauflagen - gegen den Papst–Attentäter Ali Agca ebenso wie gegen Rotbrigadisten im laufenden 32. Teil des „Moro–Falles“, gegen Neofaschisten (Anschlag auf den Bahnhof von Bolo gna) und gegen die Entführer der „Achille Laure“ sowie auch gegen zahlreiche Mafiosi. Das Problem besteht vielmehr darin, daß damit an die 3.000 Angeklagte auf freien Fuß gesetzt werden müssen. Denn in Italien schreibt das Gesetz über die U–Haft vor, daß freigelassen werden muß, wer ohne Abschluß in erster Instanz mehr als vier Jahre einsitzt; mit der Annullierung - die nun jeder von einer „illegalen“ Kammer Verurteilte beantragen kann - gilt der Prozeß aber als nicht begonnen. Zumindest die „Massenfreilassung“ will Rognoni mit einem neuen U–Haft–Dekret verhindern - das allerdings ebenfalls recht zweifelhaften Charakter hat, gelten doch Gesetze als undemokratisch, die rückwirkende Bindung haben (was bei einer Änderung der U–Haftdauer für schon Einsitzende der Fall wäre). Der Europäische Gerichtshof hat solche Praktiken in Italien bereits wiederholt scharf kritisiert. Die Lawine war ins Rutschen gekommen, weil das höchste Gericht, die „Corte di Cassazione“ in Rom, in einigen Verfahren (gegen Linksmilitante ebenso wie gegen Mafiosi) festgestellt hatte, daß Kammervorsitzende bereits zu amtieren begonnen hatten, ehe sie, wie im entsprechenden Gesetz von 1951 vorgeschrieben, formell durch ein Dekret des Staatspräsidenten dazu ermächtigt wurden. Solche Verstöße hatte es auch in der Vergangenheit gegeben, sie waren aber von den Revisionsinstanzen meist als „unerheblich“ abgetan worden. Diesmal aber befaßte sich der Kassationsgerichtshof grundsätzlich mit der Sache - und annullierte seither reihenweise Schuldsprüche: Wenn der Präsident zu Unrecht amtiert, so der Tenor, sind auch seine Handlungen ohne Grundlage, etwa seine Mitwirkung bei der Auswahl der Geschworenen - womit am Ende die gesamte Kammer falsch zusammengesetzt ist. Damit aber wird eines der höchsten Rechtsgüter verletzt - das Recht auf den „gesetzlichen Richter“. Dieses Prinzip besagt, daß bei jedem Verfahren ein bereits vor Eintreten der Strafsache festgelegter Richter (bzw. eine Kammer) nach einem gesetzlich bestimmten, nicht manipulierbaren Geschäftsordnungsplan zuständig ist. Verhindert werden soll damit, daß sich einzelne Angeklagte einen ihnen genehmen Richter heraussuchen können. Das Desaster haben also weniger die Richter des Kassationsgerichtshofes verursacht als vielmehr gerade die für die Beaufsichtigung der Rechtspflege zuständigen Beamten in Rognonis Ressort selbst, die Richter bereits amtieren ließen, ehe sie das durften. Wie „desaströs“ die Lage der italienischen Justiz ist, zeigt, über das korrekte höchstrichterliche Urteil hinaus, ein geradezu unglaublicher Satz von Justizchef Rognoni höchstpersönlich: statt den Skandal zu beklagen, daß Tausende von Angeklagten dem gesetzlichen Richter entzogen waren, lamentierte er, daß man das bei Gericht „doch bisher auch nie so genau genommen habe, und nun soll es plötzlich ein Annullierungsgrund für Hunderte von Prozessen sein“! Cosi fan tutte - alle machen es so: dann wirds schon Recht sein.