Die historische Mission der Eisernen Lady

■ Warum wählen die Briten Margaret Thatcher? / Die Premierministerin trifft den britischen Zeitgeist des Mißtrauens gegen Staats– und Gewerkschaftsbürokratie Während die Labour Party starr am Kompromiß zwischen Kapital und Gewerkschaften festhält, können sich die Konservativen als Modernisierer profilieren

Aus London Rolf Paasch

Sie ist der meistgehaßte Premier der britischen Nachkriegsgeschichte. Margaret Thatcher oder „that woman“, wie sie an den Stammtischen der Arbeiterkultur des Nordens verächtlich genannt wird. Seit ihrem Amtsantritt 1979 hat sich die Arbeitslosigkeit verdreifacht, sind die Reichen noch reicher, die Armen noch ärmer geworden. Unter ihrer Herrschaft ist die traditionelle One–Nation– Theorie durch die Realität des Nord–Süd–Konfliktes ad absurdum geführt worden. Sie hat den Nachkriegskonsens des Wohlfahrts– und Sozialstaats aufgebrochen und durch die Maximen eines spätkapitalistisch vermittelten Sozialdarwinismus ersetzt. Und dennoch sieht Frau Thatcher ihrem dritten aufeinanderfolgenden Wahlsieg entgegen. Ende des Jahres könnte sie dann Lord Asquith als den längstdienenden Premierminister des Jahrhunderts überrunden. Bleibt sie eine weitere Legislaturperiode im Amt, dann wird es 1991 eine Generation geben, die sich an keinen anderen Bewohner der Downing Street Nr. 10 mehr erinnern kann. Schon heute hat sie dem Zeitalter, in dem sie regiert, ihren Namen gegeben. Dies hat selbst Winston Churchill nicht geschafft. Sollte sie auch nach der morgigen Wahl noch nicht den Möbelwagen bestellen müssen, dann wäre sie ihrer historischen Mission, der „Ausrottung des Sozialismus“, ein bedeutendes Stück nähergekommen; hat sie doch schon bis zum heutigen Tage die konservative Hegemonie in einem Ausmaß etabliert, wie es in den siebziger Jahren noch undenkbar erscheinen mußte. Warum wählen die Briten Thatcher und mit ihr eine konservative Partei, die ihnen in den vergangenen acht Jahren die Zerstörung ganzer Industriezweige, soziales Elend, steigende Kriminalitätsraten, Spannungen in den Rassenbeziehungen und sinkende Standards im Erziehungswesen und Gesundheitssystem bescherte? Hunde, die bellen... Zunächst haben drei von fünf Briten bei den letzten beiden Wahlen nicht konservativ gewählt und werden dies vermutlich auch diesmal nicht tun. Bei ihrem Wahlsieg von 1983, im Sog der patriotischen Euphorie des Falkland–Sieges, reichten den Tories unter dem antiquierten britischen Mehrheitswahlrecht 42,2 ist, dann wird am Donnerstag eine ähnlich hohe Prozentzahl des Inselvolkes für Maggie stimmen. Nicht gerade ein Kompliment für die achtjährigen Bemühungen der beiden Oppositionsparteien Allianz und Labour, denen es zu keiner Zeit gelungen ist, die Regierung ernsthaft in Schwierigkeiten zu bringen. Der Kolumnist Hugo Young verglich die gesamte Opposition unlängst mit „Hunde, die bellen, aber nicht beißen“. Vor allem die Labour–Führung unter Parteichef Neil Kinnock wird sich nach einer weiteren Wahlniederlage heftige Kritik gefallen lassen müssen. „Der Thatcherismus“, so faßte es der Herausgeber der Zeitschrift Marxism today, Martin Jacques, schon nach Thatchers Wiederwahl im Jahre 1983 zusammen, „ist nicht nur ein Problem für die Linke, sondern auch der Linken.“ Allzu lange hatte die Labour Partei die Errungenschaften des von ihr mitbegründeten Wohlfahrtsstaates sowie den Nach kriegskonsens mit seinem historischen Kompromiß zwischen Kapital und Arbeit als politische Selbstverständlichkeit betrachtet. Kaum einer auf der Linken bemerkte, daß der Arbeiterpartei in den Jahren der Machtteilhabe ihre sozialistische Vision schon lange abhanden gekommen war. Seit Frau Thatchers Ankunft sitzen die wahren Konservativen als Bewahrer des Sozialstaats in der Labour Party, während Innovation zum Gütezeichen der Rechten geworden ist. „Es war Frau Thatcher, die die Dynamik des internationalen Kapitalismus und die auf der Linken begonnene ideologische Kritik des Staates zusammenbrachte und sich das Ganze als neue Kraft nutzbar machte“, erklärt der Guardian–Kolumnist Anthony Barnett das Erfolgsrezept des Thatcher–Experiments. Maggie und Gramsci Der langsame Abschied Labours von der Macht begann schon Mitte der siebziger Jahre, als die Linke die Auswirkungen der Transformation der Konservativen Partei durch die Thatcher– Riege ehrgeiziger Emporkömmlinge unterschätzte. Während Labour und die Gewerkschaften weiterhin auf dem traditionellen Terrain industrieller Beziehungen mit alten Methoden und Kampfgenossen ihre „struggles“ führten, waren die Neukonservativen der Thatcher–Ära bereits mit den soziologischen Vorarbeiten zur Bildung neuer Querallianzen beschäftigt, um einen Teil der Arbeiterschaft sowie die neuen Mittelschichten in ihr Projekt miteinzubeziehen. Was Gramsci schon in den zwanziger Jahren entdeckt hatte, was die Thatcher–Tories nun eher instinktiv praktizierten, das haben große Teile der britischen Labour–Bewegung bis heute noch nicht begriffen: daß nämlich die Hegemonie sowie die ihr zugrundeliegenden Interessen politisch und ideologisch konstruiert werden müssen. Während Labour noch unter dem Schock der tiefen Krise der Ökonomie, der sozialen Formation und der britischen Seele litt, nutzte Frau Thatcher die Krise, um der angeknacksten Nation ihre Radikalkur zu verschreiben. Zum einen weckte sie den in jedem Bürger versteck ten Wunsch nach persönlichem Fortkommen, seis auch um den Preis des Zurückstufens der weniger glücklichen Mitbürger. Zum anderen sprach sie als „Nanny“, als eine Kreuzung aus Haushälterin, Kindermädchen und Internatsleiterin, den tief in der englischen Psyche verwurzelten Masochismus an. Harte Zeiten, der Geist von Dünkirchen, zurück zu den alten Werten; alles was gut ist, muß weh tun - oder umgekehrt. Nur so läßt sich erklären, daß sich ein beträchtlicher Teil der Briten die Tories nicht wegen ihrer Programmatik wählt, sondern aus dem diffusen Gefühl heraus, die Eiserne Lady müsse gut für sie sein. Frau Thatchers Unpopulari tät als Person und gleichzeitige Popularität als Führerin verwirrt dabei vor allem die Labour Party, deren Führer Neil Kinnock in den jüngsten Meinungsumfragen immer populärer wird. Enterprise Culture Während Labour so zum ersten Mal in seiner Geschichte ohne explizites reformistisches Programm dastand, traf Maggies „Enterprise Culture“ den Zeitgeist der achtziger Jahre. Der vor allem im Bereich der industriellen Beziehungen zur Cliquenwirtschaft verkommenen Idee kollektiven Handelns setzten die Tories die Freiheit des Individuums vor der Bevormundung durch Staat und Gewerkschaften entgegen. Nach dem berüchtigten Streikwinter von 1979 wurden die Gewerkschaftsgesetze der Regierung Thatcher zum Grundpfeiler eines neuen rechten Populismus. Statt in den Fabrikhöfen wie bisher die Hände zum kollektiven Streikvotum zu erheben, wurden den Gewerkschaften schriftliche Urabstimmungen vorgeschrieben; Solidaritätsstreiks wurden verboten, die Zahl der Streikposten eingeschränkt; auch die Aufrechterhaltung des „closed shop“, der gewerkschaftlichen Zwangsmitgliedschaft in einzelnen Betrieben wurde erschwert. Und die durch Sparhaushalte in die Höhe getriebene Arbeitslosigkeit vollendete schließlich die Disziplinierung. Wie in jedem Wahlkampf wurden die Bilder des „Winter of Discontent“, auf den Straßen sich türmende Müllsäcke und strei kende Krankenwagenfahrer, von den Tories denn auch in diesen Wochen wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt, um an das nationale Trauma einer schwachen und den Gewerkschaften ausgelieferten Labour–Regierung zu erinnern. Die weniger zahlreichen, aber dafür um so erbitterteren Arbeitskämpfe der Thatcher–Ära dagegen dienen in der politischen Wahlkampffolklore zur Veranschaulichung konservativer Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem gewerkschaftlichen Mob. Mit der historischen Niederlage der Bergarbeiter bei ihrem einjährigen Streik 1984/85 verpaßte die britische Arbeiterbewegung - und damit auch die Labour Party - ihre vermutlich letzte Chance, die Massenarbeitslosigkeit durch die Konservativen wirkungsvoll anzuprangern. Als weitaus populärer als die Versuche Labours, die Massenarbeitslosigkeit zum Thema zu machen, erwies sich das Privatisierungsprogramm der Konservativen. Aus der allgemeinen Unzufriedenheit mit den aufgeblasenen Bürokratien der Staatsbetriebe wurde politisches Kapital geschlagen. Den Besserverdienenden wurden die Aktien zum Vorzugspreis angeboten, um so für den Volkskapitalismus zu werben. Die Einnahmen aus der Privatisierung der Staatsmonopole wie British Telecom oder British Gas wurden dann vom Schatzkanzler für selektive Steuererleichterungen verwendet. Dieses „Thatcher–Monopoly“ erwies sich als so erfolgreich, daß Labour aus Angst vor weiteren Stimmenverlusten die Pläne zur Wiederverstaatlichung aus dem Parteiprogramm strich. Der Verkauf von einer Million Sozialwohnungen an die Mieter, die damit ins Besitzbürgertum überwechselten, war ein weiterer Schachzug der Tories, um die soziale Basis der Arbeiterpartei zu verkleinern. Zufriedene Mittelklasse In Abwesenheit einer starken Opposition, die ihr im parlamentarischen Alltag oder programmatisch hätte Paroli bieten können, konnte sich Frau Thatcher ungestört der Pflege ihrer Klientel widmen: der in Großbritannien rasch anwachsenden Mittelklasse, deren Produkt sie als Tochter eines Kolonialwarenhändlers aus dem kleinstädtischen Grantham selber ist. Vor allem ein Teil der qualifizierten Arbeiterschaft ist über die Verbesserung ihrer Wohn– und Einkommenssituation „in die Mittelklasse“ aufgestiegen, die nach Definition von Soziologen seit 1979 um sechs Prozent zugenommen hat. Denen, die einen qualifizierten Arbeitsplatz haben, ging es in Großbritannien in der Tat noch nie so gut wie unter Maggies marktwirtschaftlichen Fittichen. Das durchschnittliche reale Haushaltseinkommen der Briten ist in der letzten Dekade um ein Drittel gestiegen. Nur der Lebensstan dard von Rentnern, Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und Niedrigverdienern ist nahezu unverändert geblieben. Historisch gesehen befindet sich die britische Mittelklasse dabei erst am Beginn des Konsumbooms, den die Kontinentaleuropäer schon in den siebziger Jahren durchlebten. Ein kurzer Besuch im Reisebüro, Möbel– oder Delikatessengeschäft der High Street macht dies deutlich. Der Einwand der Labour Party, die Einkaufs–Bonanza sei nur durch die Einsparungen bei den Sozialausgaben, wie kürzlich des Mutterschaftsgeldes sowie die Verschleuderung der Ölmilliarden möglich, hinterläßt bei den Nutznießern des Konsumbooms wenig Eindruck. Auch das bedrückende Szenario eines „Großbritannien ohne Öl“, das der keynesianische Ökonom William Keegan in seiner Kritik an der Wirtschafts– und Investitionspolitik der Regierung Thatcher entwirft, wird im kommenden Wahlkampf kein Thema sein. Solchen düsteren Prognosen setzt die Regierung die für sie so typische Mixtur aus ökonomischem Pragmatismus, politischem Instinkt und aus der Vergangenheit geborgten Werten entgegen. Während sie die Falkland– Malvinen–Inseln mit patriotischer Prinzipientreue verteidigen ließ, inszenierte sie die Übergabe der Kronkolonie Hongkong an Rotchina als diplomatisches Meisterstück. Als sie erkannte, daß der Monetarismus seine Schuldigkeit getan hatte, ließ sie ihren Schatzkanzler die Geldmengensteuerung kurzerhand einstellen. Während sie die Westland–Affäre um den Verkauf der letzten britischen Hubschrauberfabrik an die Amerikaner stur aussaß - und das Parlament anlog - vollzog sie in anderen Politikbereichen spektakuläre Kehrtwendungen. Das von ihr selbst und der Linken sorgfältig gepflegte Bild von der Eisernen Lady dient ihr dabei lediglich als hilfreiches Image, hinter dem sie ihrem politischen Opportunismus freien Lauf lassen kann. Nirgendwo wurde dies deutlicher als in der Vorbereitungsphase des Wahlkampfs. Plötzlich glich das Frühjahrsbudget des Schatzkanzlers einem keynesianischen Modellhaushalt, gab es für die Angestellten des jahrelang finanziell ausgehungerten Gesundheitsdienstes fette Lohnerhöhungen. Pläne zur Schließung der über das Land verstreuten Zwergschulen wurden ebenso aufgegeben wie die Bohrproben für eine Atommülldeponie. Die Parteistrategen hatten herausgefunden, daß die betroffenen Bürger drauf und dran waren, zur sozialliberalen Allianz überzulaufen. „La Passionaria der Mittelklasse–Privilegien“ - so der Oppositionspolitiker Denis Healey über Margaret Thatcher - signalisierte ihrem Wählerstamm monatelang, daß sichs im Hier und Jetzt des Thatcher–Experiments für sie auch weiterhin gut leben läßt. Die Angst vor Labours Abrüstungsplänen Erst viel zu spät, nämlich in den letzten drei Wochen ist es der Labour Party ansatzweise gelungen, die soziale Spaltung des Landes, die Massenarbeitslosigkeit, die verfehlte Renten– und Gesundheitspolitik der Regierung Thatcher zum Thema zu machen. Doch trotz der von Labour–Führer Kinnock hervorragend geführten Wahlkampagne dürfte die Linke am Ende an der ideologischen Konstruktion der Thatcher–Jahre, an der Neu–Bestimmung der politischen Agenda, an der Eroberung des traditionell von Labour besetzten moralischen Terrains, an der erfolgreichen Mobilisierung geheimer Ängste durch die Tories scheitern. So hat Labour mit seiner Verteidigungspolitik einseitiger nuklearer Abrüstung bei der Wählermehrheit deswegen keine Chance, weil das Bild einer atomwaffenlosen und verteidigungsunfähigen Insel - so falsch es auch sein mag - nicht mit dem von Frau Thatcher kultivierten Patriotismus verträglich ist. So gerät Labour auch die Forderung nach einer Rücknahme der Gewerkschaftsgesetze zur politischen Belastung, weil hier gleich wieder das nationale Trauma chaotischer industrieller Beziehungen wachgerufen wird. „Was der Thatcherismus als Ideologie leistet“, so der Soziologe Stuart Hall, „ist, unsere Befürchtungen und Ängste, die verlorene Identität eines Volkes anzusprechen“. Dem Thatcher–Projekt, Kombination aus einer längst überfälligen Modernisierung und dem Wiederbeleben eines längst überholten - des viktorianischen - Wertesystems hat die Labour Party nichts entgegenzustellen, ganz gleich wie vernünftig und überzeugend ihre einzelnen Politikvorschläge auch sein mögen. „In diesem Sinne“, so schrieb Martin Jacques bereits vor den Wahlen 1983, „könnte der Thatcherismus die Wahlen verlieren - und trotzdem mit seiner politischen Mission Erfolg haben.“ Dies gilt auch vier Jahre später noch.