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„Operation Thatcher“: Boom mit riskanten Spätfolgen

■ 2. Teil: Privatisierungswelle und „Volkskapitalismus“ machen nur vor Kirche und Königshaus halt / Entindustrialisierung im Zeitraffer produzierte massenweise Arbeitslose / Die ehemals mächtigen britischen Gewerkschaftsverbände wurden zu Zaungästen / Boom–Boom–Britain steht auf wackeligen Beinen

Aus London Rolf Paasch

Weitaus erfolgreicher als die Versuche zur direkten Steuerung der Ökonomie gestalteten sich dagegen die Bemühungen, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der befreiten Marktwirtschaft nachhaltig zu verändern. So muß vor allem die Privatisierungsstrategie als das Meisterstück der Thatcher–Regierung angesehen werden. Zunächst flossen hier die Milliardeneinkünfte aus dem Verkauf der unpopulären Staatsmonopole in das Staatssäckel des Schatzkanzlers, der somit seine Kreditaufnahme niedrig halten konnte. Gleichzeitig füllte man die Taschen der neuen Anteilseigner mit in den Aktienverkauf eingebauten Gewinnen und warb auf diese Weise für den kreierten „Volkskapitalismus“ sowie seinen Begründer, die Konservative Partei. Von den 19 Prozent der britischen Wählerschaft, die im Zuge der Privatisierungswelle zu Volksaktionären aufgestiegen sind, werden einer Umfrage zufolge 57 Prozent konservativ und nur noch 18 Prozent Labour wählen, wenn nach der nächsten Legislaturperiode nur noch Kirche und Königshaus zur Privatisierung übrigbleiben. Durch die Aufgabe der Vollbeschäftigungsgarantie, Entstaatlichungen und eine Serie von Gewerkschaftsgesetzen hat es Frau Thatcher verstanden, die einst mächtigen Partner im staatlich vermittelten Korporatismus der siebziger Jahre zu disziplinieren, zu demoralisieren und zu Zaungästen des wirtschaftlichen Geschehens zu degradieren. Der Mitglieder– und Bedeutungsverlust der Gewerkschaften ging dabei mit einer Verdreifachung der Arbeitslosigkeit einher. Allein bei der radikalen „Gesund“schrumpfung des traditionellen Industriesektors wurden 2,5 Millionen Arbeitsplätze vernichtet. Der staatlich induzierte Nachfragerückgang sowie der künstlich hochgehaltene Pfundkurs zwangen zwischen 1980 und 1982 auch unter normalen Bedingungen durchaus lebensfähige Unternehmen, ihre Pforten für immer zu schließen. Die Basis des verarbeitenden Sektors hat sich seit 1979 um 15 % verkleinert, Investitionen gingen um 20 liegt der Output der verarbeitenden Industrie derzeit noch deutlich unter dem des Jahres 1979. Die Thatchersche Radikalkur im verarbeitenden Sektor hat den Briten eine offizielle Arbeitslosigkeit von drei Millionen (elf Prozent) eingebracht. Nimmt man die 700.000 in Arbeitsbeschaffungs maßnahmen und sogenannten Trainingskursen aufbewahrten Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen hinzu und berücksichtigt man die im Verlauf von 19 (!) statistischen Bereinigungen Herausgefallenen sowie die stille Reserve, dann möchten im Frühjahr 1987 weit über vier Millionen Briten arbeiten, wenn sie nur könnten. „Was wir gesehen haben“, so faßt der Wirtschafts–Kolumnist des Observer das Thatcher–Experiment zusammen, „ist die Komprimierung von vielleicht 25 Jahren langsamen relativen Nie dergangs in einen Zeitraum von fünf Jahren; und dies trotz des Nordseeöls, das diesem Land doch zur großen Chance verhelfen sollte.“ „Wenn doch Frau Thatcher und das Nordseeöl nicht zur gleichen Zeit aufgetaucht wären“, so hatte sein Kollege vom Guardian schon 1984 geklagt, „dann hätten wir vielleicht eine Chance gehabt, den nunmehr 100 Jahre währenden relativen Niedergang endgültig aufzufangen.“ Es gibt nicht einmal Anzeichen dafür, daß Großbritannien unter Frau Thatcher die Transformation von einer traditionellen Industrienation zu einer Dienstleistungsgesellschaft mit einer entsprechenden High–Tech–Industrie erfolgreich in die Wege geleitet hat. Im Gegenteil: Auch hier zeitigt das Fehlen einer gezielten Investitionsförderung bereits negative Auswirkungen. Eine wissenschaftliche Studie zur Zukunft der Informationstechnologie warnte unlängst, daß auch die Handelsbilanz im IT–Sektor demnächst ins Defizit rutschen könnte. Statt die Einkünfte aus der Ölförderung von bisher 60 Milliarden (!) Pfund zu einer vorausschauenden Industriepolitik einzusetzen, wurden mit ihnen die sozialen Kosten des monetaristischen Experiments finanziert und die Konsumenten der sich abzeichnenden Zwei–Drittel– Gesellschaft bei Laune gehalten. So ist der jetzt pünktlich zum Wahljahr entfachte Boom weniger auf eine langfristige und konstruktive Anlage der Ölmilliarden als auf eine keynesianische Kehrtwendung und das geschickte Marketing der Tory Party zurückzuführen. Wenn jetzt gefeiert wird, daß die Arbeitslosigkeit seit zehn Monaten fällt, dann wird unterschlagen, daß hier lediglich Erwerbslose durch die Statistik fallen; wenn Großbritannien plötzlich die höchsten Wachstumsraten aller westeuropäischen Industrieländer erzielt, dann wird vergessen, auf welchem Niveau dieses Wachstum 1982 wieder mühsam beginnen mußte; wenn Produktivitätsraten steigen, dann wird verschwiegen, daß dies bei der Arbeitsplatzvernichtung selbstverständlich ist und daß die Kosten pro stündlicher Arbeitseinheit ebenfalls steigen; wenn auf die positive Zahlungsbilanz verwiesen wird, dann fällt die schon jetzt negative Handelsbilanz unter den Tisch. Kurzum, Boom–Boom– Britain steht auf wackeligen Beinen und kann seine Bedürfnisse nur über einen deutlichen Anstieg der Importe befriedigen, was wiederum einen Rückfall in das alte Zahlungsbilanz–Leiden heraufbeschwört. Oder um in das anfängliche Bild zurückzukehren: Auch nach achtjähriger Behandlung auf der teuren Intensivstation des Thatcherismus hängt der kranke Partner Europas weiterhin am Öl–Tropf. Nach einer weiteren konservativen Behandlungsphase mit aufputschenden Wettbewerbsdrogen und Placebos für die psycho–sozialen Nebeneffekte könnte die Diagnose zu Beginn der 90er Jahre durchaus lauten: Operation gelungen - Patient tot.

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