: Reagans Visite reißt alte Wunden auf
■ Während das offizielle Berlin sich über den zweiten Besuch des amerikanischen Präsidenten „freut“, planen Gegner für morgen eine Protest–Demo / Die Angst vor Zoff wie beim ersten Besuch macht die Oppositionsparteien nervös / AL hat Angst, als „Sheriff“ zu gelten
Aus Berlin Mechthild Küpper
Mao Tse Tungs Merksatz über die „konkrete Analyse der konkreten Situation“ aus dem Roten Buch ist längst vergessen. In Berlin zählen Symbole, auch wenn ihr Bedeutungsinhalt abhanden kommt. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist ein solches Symbol. Er besucht morgen für dreieinhalb Stunden Berlin. Heute soll eine große Demonstration gegen ihn stattfinden. „Reagan verfolgt den Kurs des Totrüstens gegenüber der Sowjetunion, obwohl Gorbatschow weitreichende Abrüstungsvorschläge vorlegte“, heißt es unverdrossen in dem Aufruf zur Demonstration gegen die Anwesenheit Ronald Reagans am 12. Juni 1987. Formuliert wurde der Satz, bevor die Regierung der USA mit „flexible response“ auf Gorbatschows Doppel–Null–Vorschläge einging und damit das Lavieren Helmut Kohls mühelos in den Schatten stellte. Unterschrieben haben bislang über 120 Gruppen: von A wie Alternative Liste über F wie Friedensinitiative Steglitz bis hin zu S wie Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW) und SPD Schöneberg. Auch die KPD/ML ist mit von der Partie. „Eine 750–Jahr–Feier ohne Reagan ist für den Senat eine undenkbare Vorstellung - und das, obwohl schon 1982 zeigte, wie sehr seine Politik in der Bevölkerung abgelehnt wurde“, schreiben die Organisatoren in ihrem Aufruf. Ein Reagan–Besuch ohne große Demo scheint vielen ebenso undenkbar. Traditionen muß man eben wahren. Der „Elfte Sechste“, wie der 11. Juni 1982, Datum des ersten Reagan–Besuchs, im Jargon heißt, ist noch in schlechter Erinnerung. Damals stand die AL als Veranstalter einer gerichtlich verbotenen Demonstration hilflos in einem Polizei–Kessel am Nollendorfplatz. Rund 180 Festnahmen, unzählige, zum Teil tragische Schicksale schaffende Gerichtsurteile wegen Landfriedesbruchs und Widerstands waren die Folge. Der AL wurde wieder und wieder die Gretchenfrage der Gewalt serviert. Bis heute verweigerte sie die Aussage. Fünf Jahre später leidet die SPD anläßlich des Reagan–Besuchs unter Verhaltensstörungen. Der Landesvorstand stritt sich stundenlang nicht über die Frage, ob die SPD Berlin gegen Reagan demonstrieren solle, sondern darüber, ob man förmlich beschlie ßen solle, nicht an der Demonstration teilzunehmen. Beschlossen wurde dann: Die SPD ruft nicht zur Teilnahme auf. So schwer sich ihr sozialdemokratischer Oppositionspartner damit tut, wo er radikal und wo staatstragend sein will, so hart sieht sich die AL vom militanten Teil der Szene ins Gebet genommen. „Die Gefahr, daß es Zoff gibt, ist sehr groß“, urteilt Frank Kapek, seit Mitte April Abgeordneter der AL. Er weiß, daß „Kreuzberger Kreise“ ein „Revival des 11. 6. 1982 und des 1. Mai 1987 auf dem Kudamm“ planen. Die AL sei dafür nicht zu haben. Aber „Sheriff“ will sie auch nicht spielen. Welchen Sinn in der augenblicklichen weltpolitischen Lage eine Manifestation gegen Reagan gibt, so Kapek, „wird nicht offen diskutiert“. Eine Kollegin springt ein: „Man kann nicht davon ausgehen, daß uns da ein Friedensengel besuchen kommt“. Die Alternative Liste ist nicht nur von der Kessel–Erfahrung des 11. Juni 1982 traumatisiert. Auch die Erlebnisse am 1. und 2. Mai in Kreuzberg sitzen noch unter der Haut: Als „AL–Bullen“ und „AL– Faschisten“ hätten einige Aktivisten dort den parlamentarischen Arm der neuen sozialen Bewegungen tituliert. Das tut weh. Aber es setzt auch einen Schlußpunkt unter ein ungeklärtes Verhältnis. 1982, so der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Wieland, habe die AL noch mit Fug und Recht „die politische Gesamtverantwortung für alles, was am 11.6. ablief“, übernommen. Damals hätte es noch die „Hausbesetzer als politischen Kern“ gegeben, damals habe die AL noch die meisten auf der Straße vorgebrachten Anliegen unterstützen können. Auch damit machten die Kreuzberger Straßenkämpfe am 1. Mai Schluß: „Die hören nicht auf uns, das sind nicht unsere Aktionsformen.“ Von der „Randale–Szene“ könne sich die AL jedenfalls nicht das Demonstrationsrecht nehmen lassen, erklärt Wieland, und Kapek wünscht sich „die Gelassenheit, sich nicht auf Rituale einzulassen“. „Wenn die Leute immer unbedingt wollen, dann sollen sie halt einfahren. Wir können dann nur noch für guten Rechtsbeistand sorgen. Vielleicht lernen sie dann“, sagt der Abgeordnete Kapek. „Ich fühl mich da hilflos.“ Wie die Polizei sich fühlt, weiß natürlich niemand. Sie zeigte sich bei den letzten Demonstrationen nervös, unsicher, schwankend zwischen dem Wunsch nach Ruhe und dem Willen zur Härte. Daß die jungen Einsatzpolizisten umstandslos kaserniert wurden, bis Ronald Reagan am 12. 6. sicher vom Tempelhofer Rollfeld abgehoben hat, verspricht nicht gerade Gelassenheit im Angesicht von Demonstranten. Innensenator Kewenig (CDU) braucht Ruhe in der Stadt. Wenn er die nicht gewährleisten kann, braucht er viele Festnahmen. Sonst wäre die polizeilose Nacht des Kreuzberger Aufstands vom 1. Mai sein Waterloo gewesen.
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