: Randale nach Plan
Zum ersten Mal seit Jahren gingen vorgestern im Berliner Renommierkaufhaus KadeWe wieder die Schaufensterscheiben zu Bruch. Knapp 3.000 Autonome beteiligtensich an der Großdemonstration gegen Reagan, die am Vorabend des Präsidentenbesuchs durch die Berliner Innenstadt führte. Schon während des Zuges hatte es Steinwürfe auf Geschäfte am Kudamm und eine Polizeiwanne aus der Bundesrepublik, die im Gegensatz zu den Berliner Einsatzfahrzeugen mit unvergitterten Fenstern unterwegs waren, gegeben. Dazu flogen mehrfach Farbbeutel, Böller und Leuchtkugeln. Wie Augenzeugen berichteten, waren auch Polizeiprovokateure unterwegs, einer warf mit Steinen auf den schwarzen Block. Als am Wittenbergplatz, wenige hundert Meter vor dem durch Polizeiauflage aus dem unmittelbaren Citybereich verlegten Abschlußort der Demo, die Kaufhausfenster im Steinhagel zu Bruch gingen, wurde bei einem Teil der Berliner Autonomen zunächst Unmut laut. 10.000 Polizeibeamte in der Stadt, gezielte Vorbereitungen für harte Einsätze mit vielen Festnahmen und ein auf der anderen Straßenseite bereitstehendes Dreierspalier veranlaßten viele, „Aufhören“ zu rufen. Antriebsmotor der Randale vom Donnerstag waren vor allem westdeutsche Autonome. Wenige Augenblicke nach den Steinwürfen rückten die bereitstehenden Polizeiketten unter rhythmischem Schlagen auf die Plexiglasschilder gegen den schwarzen Block vor. Als die Ordnungskräfte am vorderen Ende einen einzelnen Demonstranten abdrängen wollten, prasselte ein Steinhagel auf sie nieder. Nach den Zwischenfällen am Wittenbergplatz war die Polizei auf einmal fast völlig verschwunden. Die Autonomen rückten zum Ort der Abschlußkundgebung vor, die einstmals knapp 50.000 Demoteilnehmer hatten sich inzwischen fast ausnahmslos verdrückt. Ein Lautsprecherwagen gab hektisch noch die Auflösung der Versammlung bekannt, während die Scheiben einer Getränkefiliale klirrten und Wein und Bier rausgeschleppt wurden. Als die Polizei an den Ort der ausgefallenen Abschlußkundgebung vorrückte, lief der größte Teil der Autonomen im „Scherbengalopp“ zum Nollendorfplatz, wo sich die Szene während des Reagan–Besuchs 1982 mit der Polizei Straßenschlachten geliefert hatte. Am Nollendorfplatz setzte die Polizei Tränengas ein. Kurzzeitig wurden hier Demonstranten eingekesselt, der größte Teil zog weiter zum wenige hundert Meter entfernten Winterfeldplatz, der während der Hausbesetzerzeit als bevorzugte Randalestätte berühmt geworden war. Die Polizei überwand brennende Barrikaden und drängte die Autonomen mit Schlagstöcken in mehrere Seitenstraßen ab. Die versprengten Reste der Berliner Alternativen Liste (AL) waren unterdessen samt autonomem Anhang erst Richtung Norden gezogen, wo gestern der US–Präsident vor dem Brandenburger Tor sprechen sollte. Massive Polizeikräfte riegelten das Gelände des Tiergartens ab. Der Zug endete schließlich, nachdem ein Kaufhaus und eine Bank Glasschäden erlitten hatten, in einem Kessel am Bahnhof Kurfürstenstraße. Während der Randale im Anschluß an die Demonstration in der Innenstadt gelangen der Polizei nur einzelne Verhaftungen. Der überwiegende Teil der rund 100 Festnahmen, die der Berliner Ermittlungsausschuß nachts gezählt hat, ist auf polizeiliche Greiftrupps in Kreuzberg zurückzuführen. Die Polizei gab gestern mittag 77 Festnahmen an, 40 waren bereits wieder auf freiem Fuß. Gegen 24 sollen Verfahren eröffnet werden, die übrigen 13 befanden sich vorbeugend nach ASOG in Polizeigewahrsam. Nach 23 Uhr wurden im Kreuzberger Kiez um den Heinrichplatz immer wieder kleinere Barrikaden aus Straßenschildern und Bauzäunen errichtet. Die Polizei riegelte abwechselnd einzelne Straßenabschnitte ab, fuhr mit Wannen und Barrikadenräumern in hoher Geschwindigkeit durch das Wohngebiet und setzte Tränengas und Schlagstock ein. Immer wieder wurden kleinere Gruppen von Leuten durch die Straßen getrieben, zu Boden gestoßen, verprügelt und teils verhaftet, teils liegengelassen. In der Oranienstraße leuchteten Beamte Häuser mit Scheinwerfern ab und stürmten mehrmals die Treppenhäuser hoch. Die Auseinandersetzungen in Kreuzberg dauerten bis in die frühen Morgenstunden. Die Polizei hatte vorgestern vor Beginn der Großdemonstration erstmals in Berlin 10.000 Flugblätter verteilt, auf denen zur Distanzierung von Gewalt aufgerufen wurde. Der unübersehbare Demozug, die Veranstalter sprechen von knapp 80.000 Teilnehmern, die Polizei schätzte weniger als 30.000, wurde von mehreren Lautsprecherwagen, Musikgruppen und artistischen Vorführungen begleitet. Gleich auf dem ersten Kilometer der strecke gab es westdeutsche Polizeifahrzeuge zu bewundern. Die Berliner hatten im Rahmen der nach alliierten Vorschriften notwendigen „Einbürgerungen“ nicht nur die Hoheitszeichen an Fahrzeugen und Uniformen überklebt, sondern auch die westdeutschen Nummernschilder überschraubt. Trotz der 10.000 Polizisten hat Innensenator Kewenig mit dem gestrigen Polizeieinsatz während der Randale nach der Demo eine Schlappe erlitten. Mit dem gestern mittag ausgerufenen „Belagerungszustand“ in Kreuzberg soll das wohl gerächt werden. Martin Wollenberg
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