: Eine Stadt hört auf zu sprechen
Anti-Reagan-Demo, Steine und Polizeiknüppel, Blockaden in Kreuzberg, ein Innensenator, der den Rechtsstaat ad acta gelegt hat und die Sprachlosigkeit der Linken und Liberalen / Berlin danach – eine Zustandsbeschreibung ■ Von Klaus Hartung
Aus Berlin kamen in den letzten Jahrzehnten viele radikale Parolen: Außerparlamentarische Opposition, vom Protest zum Widerstand, die Rote Armee aufbauen. Jetzt, zum zwanzigsten Jahrestag der Studentenrevolte ist eine neue Formel aus Berlin blitzschnell durch osmotischen Druck durch die Republik gegangen. Damals fragte die Bundesrepublik, was wollen die Studenten, jetzt fragt niemand, was wollen die Autonomen, sondern alle Welt will wissen: was ist „Hönkel“. Die Ereignisse, die die Karrire dieses Wortes, dieser Urwaldtrommel der Anarchie, dieses dadaistischen Anti-Protest-Protestes bewirkten, sind bekannt: Anti-Reagan- Demonstration letzte Woche; der Berliner Innensenator Kewenig protzt mit dem Polizeiaufgebot; nach den zerstörten Schaufenster- Scheiben in der Innenstadt treiben 10.000 Polizisten die Demonstranten in Wellen auf Kreuzberg zu; eine Kette von Barrikaden, Schlägereien bis in die Morgenstunden hinein. Nächster Tag, Freitag, Reagan-Besuch: der größte Berliner Bezirk, Kreuzberg,wird überfallartig umzingelt und durch die Polizei für Stunden von der Stadt abgetrennt, der Rechtsstaat wird prophylaktisch aufgehoben. Außerdem gibt es natürlich auch Straßenkämpfe. Lager Zwei Klarstellungen am Anfang, um die Fragestellung zu präzisieren. – Erstens: es ist verschiedentlich und nicht nur von der Seite der Rechten gesagt worden, daß die Reagan-Demonstration nur ein Anlaß zur Randale gewesen sei. Es wäre eine unnötige Geschichtsklitterung, dies zu leugnen. Daß zum Reagan-Besuch etwas passieen mußte, stand fest, wurde beschworen und erwartet. Niemand erzähle, in spontaner Wut sei zu Steinen gegriffen worden. Es ist dabei keine Frage, daß Reagan selbst – und nicht so sehr die tatsächliche Politik seiner Administration im gegenwärtigen Augenblick – auch ein wirklicher Anlaß war. Reagan ist schließlich der Alptraum einer Generation und die Angst aller anderen. Sein Auftritt in der Geschichte hat bis in den privaten Alltag hinein den Weltuntergang gegenwärtig gemacht. Seine Version von Gesellschat, die „Reagonomics“, dh., die Installierung der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“, hat auch hierzulande bis hinunter zum Verhalten des letzten Angestellten im Sozialamt durchgefettet. Außerdem: Reagans Figur war Symbol für jahrelange Ohnmacht der Vernunft trotz aller Friedensbewegungen, für jahrelange demütigende Aussichtslosigkeit aller Proteste. Zweite Klarstellung: Dieser Innensenator Kewenig hat, wie noch keiner seiner Amtsvorgänger, nicht nur Rechtsstaatlichkeit verletzt, sondern selbige buchstäblich zu de Akten gelegt. Als Herr von 10. 000 Polizisten hat er eine Politik des besetzten Landes betrieben. Die Rücktrittsforderung ist die logische Konsequenz. Aber der springende Punkt ist, daß es nur die logische Konsequenz ist, denn real stellt sich keine Situation her, in der der Rücktritt Kewenigs tatsächlich zur Debatte steht. Mit anderen Worten: es geht nicht darum, welche Gewalt den Polizei-Einsatz und welcher Polizei-Einsatz die Gewalt rechtfertigt. Es geht nicht darum, die Inszenierung des Ausnahmezustans zu brandmarken, das hieße nur, zu entlarven, was offen zutage liegt. Nicht die Lust auf den Notstand, nicht die Mißachtung elementarer Rechte läßt erschrecken, sondern die Apathie aller sonstigen gesellschaftlichen und politischen Vermittlungsinstanzen. Berlin scheint nach diesem Wochenende einen Zustand zu akzeptieren, in dem sich Lager gegenüberstehen, in dem staatliche Organe als Lager von Bewaffneten angesehen werden. Und dieser Zustand sollte beschrieben werden. Tod der Opposition Sprachlosigkeit be Linken und Liberalen. Schon vor der Anti-Reagan-Demonstration hat es keine breite Auseinandersetzung um die aktuelle US-Politik gegeben. Auf der Demonstration dann die längst bekannten Parolen-Graffiti. Die Veranstalter, vom DGB bis zur AL, lösten die Kundgebung sang- und klanglos auf, als am KaDeWe, kurz vor dem geplanten Kundgebungsort, das Steinewerfen und das Zuschlagen der Polizei ernster wurden. Aber sie hatten ja schließlich eine politische Verantwortung, nicht für das Steinewerfen, aber dafür, wassie sagen wollten. Doch sie wollten weder intervenieren noch sich durchsetzen, weder befrieden noch zum Kampf aufrufen. Eine Flucht der politischen Sprache vor dem Bürgerkrieg von oben! Am Freitag wird ein ganzer Stadtteil von dem Innensenator zum provisorischen Stadion ausgewählt – Über Stunden, obwohl Leute zum Arzt müssen, Kinder aus der Schule kommen, Arbeitsschluß ist. Der Senat zwingt die Berliner Verkehrsbetriebe zur Lüge, daß wegen einer Betriebsstörung keine U-Bahnen und Busse fahren, und der SFB agt diese Lüge kontinuierlich durch. Aber kein schockierter SFB-Intendant protestiert empört, daß ein öffentlich-rechtlicher Sender nicht dazu herhalten darf, die Bevölkerung zu desinformieren, zu verarschen. Keinerlei Gefühl mehr in der Teil-Stadt, daß hier totalitäre Verhältnisse inszeniert werden, die „drüben“ so gar nicht mehr möglich sind. Und die Opposition in dieser Stadt? Keine SPD-Abgeordneten versuchen den Durchgang durch die Polizeisperren zu erzwingen. Nein, sie sind offenbar bei den Pri vilegirten des Ausnahmezustandes, den handverlesenen Claqueuren Reagans. Intervenieren die Richter gegen die Polizeikessel in der Innenstadt? Ist die Stadt am nächsten Tag mit Flugblättern übersät, treffen sich die Betroffenen in Kirchen, in den Universitäten, berät das breite Lager der Opposition die nächsten Schritte, wird die linke Öffentlichkeit mobilisiert, werden die Liberalen zur Parteinahme gezwungen? Nichts, nichts. Nein, nicht einmal Entsetzen über die Apathie. „Hönkel“. Der Rechtsstaat wird von der Poizei angegriffen und er geht auf wie ein Reißverschluß. Berlin hat nicht „Gewalt der Straße“ hingenommen, denn das ist eine bestimmte, auf etwas bezogene Gewalt. Berlin akzeptiert einfach Gewalt sans phrase, akzeptiert Asozialität. Politisches Vakuum Natürlich tun die Oppositionsparteien AL und SPD ihre Schuldigkeit. Die AL kümmert sich um die Verhafteten und fordert den Rücktritt von Innensenator Kewenig. Da aber nach der Berliner Verfassung eine Rücktrittsforderung als Mißtrauensvotum mit namentlicher Abtimmung behandelt wird, wird die CDU/FDP Koalition in Treue fest bleiben. Die SPD appelliert deswegen an den Regierenden Bürgermeister, Kewenig zu entlassen. Erfolg werden beide nicht haben. Und sie wissen es. Nicht die Stunde der Opposition hat geschlagen, sondern nun geht es in der Tagesordnung der 750-Jahrfeier weiter. Der Instinkt für die politische Situation ist verschwunden: Was an diesem Wochenende passiert ist, hat doch nichts mehr mit dem Clinch von Steinewerfen und Polizeiknüppel zu tun, sondern amit, daß sich beide Parteien in einem politisch leeren Raum bewegen. Natürlich hat jetzt die Linke den Polizeistaat vor Augen, den sie längst schon im Kopfe hatte; und die Polizei kann auf die Linke einschlagen, auf die sie sich längst schon eingestellt hatte. Aber damit spitzt sich die politische Situation nicht zu, sondern die Politik verschwindet. Was läuft, ist vielmehr etwas anderes, viel Bedrohlicheres: die Dekomposition Berlins. Der Stadtteil Kreuzberg wird abgeschrieben, wird aus einem Ort sozialplitischer und städtebaulicher Strategien zum Ort polizeilicher Strategien gemacht. Das heißt: es wird um den kulturell produktivsten, widersprüchlichsten und lebendigsten Bezirk eine politische Mauer gezogen, er wird zum Hort von „Anti-Berlinern“ erklärt. Anfang vom Ende der gesamten Stadt im Kältetod. Soziologismus Nach der Bürgerkriegsnacht am 1.Mai in Kreuzberg beeilten sich die Parteien von Links bis Rechts, auf die „sozialen Ursachen“ hinzuweisen, so als ob der Supermarkt „Bolle“ deswegen geplündert wrde, weil in Kreuzberg der Hungertod grassiert. In Wahrheit war das natürlich eine Flucht in den Soziologismus, ein Verzicht, über den Zustand der ganzen Stadt zu reden, für den Kreuzberg ein Symptom darstellt. Der Regierende Bürgermeister versuchte noch die nächtlichen Bürgerkrieger als „Anti-Berliner“ zu denunzieren, zunächst ohne Erfolg – zu tief saß der Schreck über das brandschatzende Volk. Jetzt aber spricht Matthes, Chefkommentator des Tagesspiegel und Doyen der Berliner Liberalität, ganz selbstversändlich von „Anti-Berlinern“. Aber in einer Gesellschaft, die sich in Deutsche und Anti-Deutsche, in Berliner und Anti-Berliner aufteilt, stehen entweder Revolution oder Konzentrationslager an. Oder sie ist politisch-gesellschaftlich am Nullpunkt angelangt, am Ende demokratischer Zivilisation. Das hat natürlich seine Vorgeschichte: Einmal die stille, aber totale Niederlage der Opposition im letzten Jahr. Der Senat, als politischer Ausdruck von Baukriminalität und Prostitution bloßgelegt, war reif zum Sturz Aber die einzig wirksame Opposition war die Staatsanwaltschaft – innerhalb ihrer natürlichen Grenzen. Wenn die Schwächung einer Regierung nicht das Erstarken der Opposition provoziert, dann hört Politik auf. Hinzukommt, daß AL und SPD sich selbst zu Serviceorganisationen ihrer Stammwähler verstümmeln. Es gibt keine Perspektive der Machtablösung bei beiden Parteien. Alleine können sie nicht gewinnen, aber zusammengehen wollen sie um keinen Preis. Jetzt zeigt sich, daß die politische Sphäre nicht mehr existert, die linke Öffentlichkeit nicht einmal dann sich herstellt, wenn sie direkt gefordert ist. Die einzig dauerhaft verneinende Kraft sind die Autonomen. Da der Berliner Ist-Zustand, die geduldete Subventionsinsel, keine Zukunft hat, also verneint werden muß, sind sie allein auf der Höhe der Zeit. Entweder wird in Berlin große Politik gemacht (nicht Senats-Politik ist damit gemeint) oder es heißt eben „Hönkel“. Daß sich in Berlin jetzt Polizei und Autonome gegenüberstehen, teilt die Stadt in Lager, zwische Ordnung und Marginalisierung, zwischen Mitte und Rand. Daß es Leute gibt, die Randale machen, ist längst nicht mehr das Problem. Die Straßenkämpfer machen (als einzige) Elend, Aussichtslosigkeit, Marginalisation akut. Da sie aber die einzigen sind, ist Zwei- Drittel-Gesellschaft keine bloße soziale Tendenz mehr, sondern politische Realität. Zumindest für diese Tage. Die Gewaltdebatte ist mithin antiquiert: Wenn das Wohlleben der Stadtmitte durch die Staatsgewalt garantiert wird, sind die Überfälle vom Ran Teil des Bildes: eine Staatsfolklore. Der Innensenator Kewenig ist nur Exekutor dieser Verhältnisse. Trotzdem muß er zurücktreten, aber durch wen? „Hönkel“?
Foto: Marily Stroux
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