: Bildung: Die Rechte in der Offensive
■ Ein Gespräch mit Mitarbeitern des Max–Planck–Instituts für Bildungsforschung in Berlin
Bildungspolitik in deutschen Landen heißt heutzutage Krisenmanagement. Qualifizierte Bildungspolitiker gibt es nicht mehr. Was es gibt, das sind Technokraten, die Bildungspolitik als Haushaltsprobleme begreifen oder selbsternannte „Kulturkämpfer“, die Bildungsfragen lediglich als ideologische behandeln: Bei der Diskussion von Bildungsstrategien wird nicht mehr die Frage nach der Qualität von Bildung gestellt. Auch nicht von seiten der Studenten. So kam es auch erst nach einschneidenden Kürzungsplnen im Haushalt der Hochschulen und der Diskussion um die Länge der Studienzeiten zu kurzfristiger Unruhe unter den niedersächsischen Studenten. Und die Ankündigung von Streichungsabsichten bei der Lehrerausbildung an mehreren Hochschulen Nordrhein–Westfalens war notwendig, um die Studenten des Landes hellhörig werden zu lassen. Unruhe gibt es aber auch in anderen Bundesländern: Die Anpassung der Landeshochschulgesetze an das Hochschulrahmengesetz der Bundesregierung bringt einschneidende Veränderngen mit sich. Schon geht man seitens der Gesetzgeber daran, die eingemotteten Talare - bislang schamhaft versteckt - aus den Kleiderkammern der Fakultäten hervorzuholen. Die Hochschullehrer können aufatmen - verlorenes Terrain ist wieder in ihrem Besitz. Die Gruppenuniversität erscheint als Laster spätpubertärer Rebellion. Fast ungehindert wendet man sich wieder der Elitediskussion zu, fordert zusätzliche Eingangsprüfungen für zukünftige Studenten und setzt darauf, daß die Hochschulen sich demnäcst selbst ihre Kandidaten aussuchen werden. Der Pfad zu universitärer Bildung wird zusehends schmaler und die Konkurrenz härter. Mittlerweile ist die Zahl der studierenden Arbeiterkinder rückläufig und überhaupt wird so mancher sich hüten, nach Ablegen der Abiturprüfungen auch ein Studium aufzunehmen: fast 40 Prozent aller Abiturienten verzichten auf ein universitäres Studium. Wer nicht schon im Vorfeld kapituliert, der tut sich zumindest gegen Ende des Studiums schwer. Die Scheu vor der katastropalen Arbeitsmarktsituation für Akademiker verlängert die Aufenthaltsdauer an den Hochschulen für eine beträchtliche Anzahl der Studenten so sehr, daß ein Bildungsexperte wie der Hamburger Erziehungswissenschaftler Tillmann bereits von der „Postadoleszenz“ in den höheren Studiensemestern spricht. Ein Teil dieser „grauen Panther“ wird vielleicht auch noch zu denen gehören, die ein Fach studieren, das ihnen persönlich wichtig erschien und ihnen ganz individuelle Perspektiven erschloß. Sie haben übershen, daß der Markt nichts für individuelle Bildung übrig hat und nach ehernen Notwendigkeiten funktioniert. Indikator: die Verkümmerung geisteswissenschaftlicher Studiengänge zu Gunsten der Naturwissenschaften. Im Bildungsgefüge der Bundesrepublik ist also einiges durcheinandergeraten und die herr Es war deshalb nötig, daß wir die Abgeschiedenheit einer Forschungseinrichtung aufsuchten, um mehr über Zusammenhänge und Perspektiven der derzeitigen Bildungskrise zu erfahren. Mehrere Mitarbeiter des Brliner Max–Planck–Instituts (MP wenn sie die „richtigen Ergebnisse“ für die Politik liefern. Schon einmal wurde ihrem Institut Fehlverhalten vorgeworfen: es mische sich „unwissenschaftlich“, i.e. politisch, in Fragen ein, die es eigentlich gar nichts angingen. Doch das ist lange her und seitdem hält man sich beim MPI für Bildungsforschung vornehm zurück, zumindest was die Gesamtheit des Instituts betrifft. Lediglich eine Arbeitsgruppe war weiterhin publizistisch tätig und verlegte in einem Hamburgr Verlag jenen „Überblick für Eltern, Lehrer und Schüler“, der sich „Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland“ nennt. Es sind u.a. auch Wissenschaftler aus dieser Arbeitsgruppe, mit denen wir sprechen konnten. Sie legen Wert darauf festzustellen, daß ihre Meinung nicht als Institutsmeinung anzusehen ist.
taz: Bildungsminister Möllemann ist sehr um die Studierfähigkeit der Hochschüler besorgt. Als Beleg für die Berechtigung solcher Sorgen zitiert sein Pressesprecher „authentische Belege aus dem Volke“. Dies allerdings auch erst zu einem Zeitpunkt, wo der Kummer des Bildungsministers nicht mehr hinlänglich aus entsprechenden Studien und Expertisen zu speisen ist. Belege sind nunmehr ein Schreiben des VDS an ihn, das angeblich „vor Schreibfehlern strotzte“ und ein Schreiben des Juso–Hochschulbundes, in dem „unverschämt“ mit „h“ geschrieben wurde. Damit stellt sich der Minister in eine Reihe mit jenen Hochschullehrern, die sich kürzlich mit der Forderung an die Öffentlichkeit wandten, Studenten sollten erst einmal Grammatik und Rechtschreibung lernen, bevor sie ernsthaft ans Studieren dächten. Sind solche Einwände in puncto Studierfähigkeit berechtigt? Gottfried Pfeffer: Solche Argumente kommen einem verdächtig bekannt vor. Seit Mitte der sechziger Jahre habe ich mit Bildungspolitik zu tun und habe das nun immer gehört. Beate Krais: Kein Mensch weiß, was Studierfähigkeit eigentlich ist. Man kann sicher Tests mit Studenten machen, was übrigens selten genug geschieht. Ansonsten gilt seit dem 18. Jahrhundert die Aussage, daß der, der das Abitur hat, auch studierfähig ist. Aus. Unabhängig vom Abitur werden bei uns Kriterien der Studierfähigkeit nicht definiert. Man macht eben bei uns unabhängig vom Abitur keine Eingangsprüfungen an den Hochschulen, wo jeder x–beliebige sich bewerben und sagen kann: „Ich möchte gerne studieren, testet mal meine Studierfähigkeit“. Obwohl: Da gibt es doch in Rheinland–Pfalz den Vorschlag von Kultusminister Gölter, zusätzlich zum Abitur noch Eignungstests einzuführen. Krais: Ja, den Vorschlag gibt es. Aber der ist äußerst prekär. Was bedeutet denn dann noch das Abitur... Solange sich Klagen mangelnder Studierfähigkeit auf die genannten Hochschullehrer beschränken, sind sie nicht ernstzunehmen. Jens Naumann: Wir sind, was dieses Thema betrifft, in Deutschland in einer ganz besonderen Situation. Hier gibt es keine Tradition standardisierter Leistungs tests: Die Vorstellungen von der Testqualität des Abiturs variieren zwischen den Bundesländern, sogar zwischen einzelnen Schulen, und es ist nicht so wie in den USA, wo es einen „Standard Academic Achievement“–Test gibt, dem sich die künftigen Studenten unterwerfen müssen. In den USA hat man festgestellt, daß der Leistungsstandard in den siebziger Jahren leicht zurückgegangen ist. Wenn man so eine Aussage trifft, muß man sich vor Augen führen, daß es in einer gegebenen Studenten– oder Studienanfängergruppe zu jedem Zeitpunkt schwache, mittlere oder besonders gute Aspiranten gibt. In Deutschland wäre es idiotisch zu behaupten, daß es „nur heute“ oder „nur in der Vergangenheit“ schwache Schüler oder Studenten gegeben habe - die hat es zu jeder Zeit gegeben. Womit wir konfrontiert sind, ist die Expansion der absoluten Studentenzahlen. Dabei ist es durchaus möglich, daß sich die prozentuale Verteilung der Leistungsstandards unter den Studenten nicht verändert hat, aber das Vorhandensein der Leistungsunterschiede durch die größere Quantität an Studenten einfach nur auffälliger wird: Da sind plötzlich in einer Studentenpopulation am Fachbereich X nicht nur zehn, sondern zwanzig schwache Studenten. Reinhard Nuthmann: Die Institution Hochschule ist nicht mehr die, die sie einmal war: Das Institut für eine relativ homogene gesellschaftliche Gruppe. Es sind neue soziale Gruppen hinzugekommen. Von daher wird es mittlerweile andere Studenten–Profile geben. Das sollte man festhalten. Ich hatte immer den Eindruck, daß es in dieser Frage schon lange so etwas wie eine klammheimliche Komplizenschaft zwischen den sogenannten Progressiven und den Konservativen gibt: Unter den Konservativen ist die Heterogenität und damit der von ihnen diagnostizierte Verfall der Eliteuniversität ein wunderbares Argument, mit dem man gegen jedwede Forderung nach Veränderung ankämpfen kann. Die Progressiven operieren gerne damit, daß ja Heterogenität gar nichts ausmache. Aber die wollen es lieber auch nicht so genau wissen, denn dabei könnte sich zeigen, daß es doch Gruppen gibt, denen ein Studium nicht ganz so leicht fällt. Wer hat denn nun überhaupt ein Interesse, das festzustellen? Das MPI? Alle: (durcheinander) Ho, ho, ja, ja... es fehlt eine statistische Basis... Nuthmann: In den USA ist z.B. deutlich, daß trotz aller Tests, mit denen die Schüler ja bereits in den Schulen beglückt werden, die Universitäten davon ausgehen, daß sie es mit einer sehr heterogenen Population zu tun haben. Das heißt dort aber auch, daß die Hochschulen von sich aus entscheiden, an welche Gruppen sie heranwollen, welche Studenten sie aufnehmen - und ich weiß nicht, ob wir das wollen. Pfeffer: Es ist auch so, daß die amerikanische Hochschule ihre Aufgabe sehr viel stärker als eine pädagogische begreift. Im Gegensatz dazu bietet die deutsche Hochschule Wissenschaft einfach nur an. Diese Situation provozierte dann ja auch den Ruf nach einem Ausbau der Hochschuldidaktik Mitte der sechziger Jahre. Immer wieder wird auf bundesdeutschen Kongressen der Mythos beschworen, deutsche Hochschulen seien international nicht wettbewerbsfähig mit der Forderung: Hebt das Niveau. Vor allem mit dem Blick auf Japan erzeugt man seitens der Wirtschaftsverbände ein Bild, das eine ganze furchteregende Horde von Samurais zeigt, die ihre Lanzenspitzen auf die deutsche Wirtschaft gerichtet haben. Ist diese Paranoia berechtigt? Verhindert das „miese Niveau“ deutscher Hochschulabsolventen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie? Naumann: Ich denke, daß man einen großen Teil der gegenwärtigen Diskussion nur verstehen kann, wenn man sich die gesamtpolitische und die Lage der Hochschulen vor Augen führt. Politiker und Öffentlichkeit sind mit dem Problem der - absolut gesehen - hohen Studentenzahlen konfrontiert. Gleichzeitig sehen sie zunehmende Arbeitsmarktprobleme, eine aus den Statistiken herauszulesende Verlängerung der Studienzeit, eine in den siebziger Jahren größer gewordene Abbruchquote bei den Studenten. In einer politischen Situation, in der man an den Fakten sehr wenig ändern kann, wird jetzt nach Themen gesucht, die Schuldzuschreibungen zulassen. Das Ganze ist ein weitgehend symbolischer Kampf, der auch irgendwie verständlich ist. Denn erst jetzt wird klar, was die Konsequenzen der sechziger Jahre sind, in denen wir von Bildungsexpansion und -reform gesprochen haben. Wir sind in einer sehr schwierigen und kritischen Übergangszeit, in der sich die Konsequenzen aus dem damaligen bildungspolitischen Kurswechsel zeigen. Beispielsweise auf den Arbeitsmärkten: Erst jetzt wird klar, daß es mit den traditionellen Akademikerpositionen aus ist: ihre Zahl ist begrenzt. Daher wird es zunehmend zur gesellschaftlichen Normalität werden, daß Leute mit abgeschlossenem Hochschulstudium im Konkurrenzkampf um Sachbearbeiterstellen landen. Müssen wir also zurück zur Eliteuniversität? Krais: Das ist nur eine politische Option... Nun, vor kurzem arbeitete das MPI–München noch dem Bildungsministerium zu - mit der Weinert–Studie zum „Denken Hochbegabter“. Nuthmann: Na, der Weinert geht doch ziemlich kritisch an diese Frage der „Schwerstbegabten“ heran. Einseitig Schwerstbegabten, wollte ich sagen. Das hört sich ja an, als sprächen Sie von einer Behinderung? Nuthmann: Ja, so wird das auch immer verhandelt: als bedürften diese Menschen besonderer Pflege. Fortsetzung auf Seite 9 Fortsetzung von Seite 8 Man pflegt sie immerhin schon seit Jahren. Nuthmann: Ein Problem der deutschen Universität ist ganz sicherlich, daß an ihr von Anfang an nur Fachstudien möglich sind, die darauf abzielen, in einer Profession ausgebildet zu werden. Pfeffer: Na, das ist bei einzelnen Fächern aber unterschiedlich. Krais: Schon. Aber man sieht das Studium im Grunde immer als Berufsausbildung an - für einen bestimmten Beruf, für eine bestimmte Position. Man studiert nicht so sehr, um sich zu bilden. Der Kampf um Elitebildung ist doch auch ein Abwehrkampf von bestimmten Leuten, die ihr Welt bild und die Lebensperspektive für ihre Kinder ins Wanken geraten sehen und dann sagen: „Wir müssen den Laden dicht machen“. Es sollen dann nur noch die studieren, die als studierfähig definiert werden... und das sind selbstredend ihre eigenen Kinder. Die sollen problemlos Jurist werden und nicht jahrelang in irgendwelchen Aushilfsjobs rumkrebsen. Will man die Chancengleichheit also auch nominell abschaffen? Krais: Sie ist abgeschafft. Ja, de facto. Aber wie ist es nominell? Pfeffer: Man kann die Chancengleichheit nicht offiziell unter dem Tisch verschwinden lassen. Es kann sich niemand öffentlich hinstellen und sagen: „Wir sind gegen Chancengleichheit“. Krais: Aber die Diskussion um die Eliten hat dies sehr klar betont, daß es eben nicht um Chancengleichheit geht. Naumann: Wir brauchen keine Eliteuniversität, weil im jetzigen System schon ein derart starker Konkurrenzkampf an den Universitäten und unter den Absolventen angelegt ist. Der Ruf nach Eliteeinrichtungen ist - karikiert - einer nach Abschaffung der derzeitigen Konkurrenz. Er kommt tatsächlich von Leuten, die Angst haben, daß sich ihre Kinder diesem Konkurrenzkampf stellen müssen. Sollte man unter solchen Bedingungen Frauen überhaupt noch raten, an die Universitäten zu gehen? Krais: Natürlich. Nuthmann: Aber immer. Wie wird sich die Frauenquote unter den Studierenden entwickeln? Krais: Ich denke, wir sind da derzeit in einem quantitativen Anpassungsprozeß. Man sieht ja, daß die Studentinnenzahlen bei den Studienanfängern stagnieren oder leicht zurückgehen. Das sind auch Reaktionen auf den Schock, daß der Bedarf bei frauentypischen Berufen wie zum Beispiel Lehrerin im Augenblick sehr dünn ist. Man soll sich von solchen temporären Bewegungen nicht verwirren lassen. Es müssen erst einmal Anpassungsleistungen erbracht werden, die Zeit brauchen. Wenn man nicht mehr Lehrerin werden kann, muß man sich eben überlegen was dann ..., studiert man überhaupt ...? Naumann: Und unter Umständen ist ein Studium auch sinnvoll, wenn man keinen entsprechenden Beruf ergreift. Überhaupt dominiert ja die Vorstellung, im Leben eines Menschen sei Arbeit das Wichtigste. Wir sind aber seit Jahrzehnten auf einem Weg, der Arbeitszeit und die Rolle der Ar beit zu reduzierter Bedeutung führt. Das meint nicht einfach nur Familienleben. Das bezieht sich auf das Entstehen von neuen Rollen, die im Freizeitbereich liegen. Die gegenwärtige Diskussion argumentiert zu eng, zu ökonomistisch, eben aus einer konservativen Ecke. Wer setzt dem überhaupt noch etwas qualifiziert entgegen? Ich sehe auch am fernsten Horizont keine Opposition auftauchen. Naumann: Ich sehe sie schon .. Bestimmte Ansprüche, Hoffnungen und Werte sind stabil in unserer Gesellschaft verankert. Wir haben meritokratische Perspektiven, haben daneben aber auch Gleichheitspostulate. Beide Ziele werden weiterhin bestehen und zu Spannungen und Konflikten führen. Wenn wir jetzt also bis Anfang der neunziger Jahre eine besonders schwierige Situation im Hochschulzugang haben, dann bedeutet dies nicht, daß das statistisch beschreibbare Faktum auch politisch und ideologisch akzeptiert wird, denken Sie an die Frauenquote, zurückgehenden Arbeiteranteil etc. In dem Augenblick, wenn die Rahmenbedingungen es zulassen, wird man sich an solche Postulate erinnern. Und das wird 1995 der Fall sein, wenn das dicke Ende erst vorüber ist. Das dicke Ende ist für den Berliner Wissenschaftssenator Turner mit der Vorstellung verbunden, daß endlich mehr Konkurrenz zwischen den Hochschulen installiert wird. Naumann: Die ganze konservative Fraktion hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht, weil sie in ihrer Beurteilung der Entwicklung unterstellt, daß so etwas wie Chancengleichheit hergestellt worden wäre. Wenn den konservativen Politikern klargemacht werden kann, daß ihre Prämisse nicht stimmt, werden sie Schwierigkeiten haben, ihren Kurs fortzusetzen. Die beschriebenen Probleme sind in den Köpfen der Öffentlichkeit ja noch gar nicht als solche vorhanden. Krais: Und in den Publikationen des Hochschul–Information– Systems (HIS) ist für diese Probleme ebenfalls kein Platz, weil Bonn sie nicht sehen will. Nehmen Sie die Untersuchungen zu Arbeiterkindern an der Universität. Da werden nur noch zwei große Gruppen nach sozialer Herkunft unterschieden: Vater hat studiert, hat nicht studiert. Unter letztere Rubrik fällt natürlich eine ganze Menge, was dann nicht gesondert bestimmt wird.. Ja, wo ist sie denn nun, diese Opposition, die solche Praktiken verurteilt und langfristig qualifiziert opponiert? Nuthmann: Ich sehe sie im Augenblick nicht. Krais: Aber ich sehe, daß sie sich im Augenblick bildet. Aus welchen Kreisen wird sie sich rekrutieren? Nuthmann: Am ehesten wohl aus den Reihen der Frauen. Naumann: Links von der Mitte .. Krais: Ich sehe Umstrukturierungsprozesse in dieser Richtung bei den Gewerkschaften. Da gibt es zwar immer noch starke traditionalistische Positionen, aber es sind so tiefgreifende Umwälzungen zu verzeichnen, auch in der Mitgliederstruktur. Ein zutiefst erschüttertes Selbstbewußtsein bei den Repräsentanten der alten Gewerkschaftspolitik bewirkt, daß es derzeit wirklich offene Felder gibt, die besetzt werden können. Übrigens: Die 35–Stundenwoche wird da ein sehr wichtiger Punkt der notwendigen Entwicklung sein. Ohne eine radikale Arbeitszeitverkürzung geht es nicht. Ohne das läuft nichts, gar nichts. Gehen wir einmal mehr an die Basis. Sind denn die Studenten Hoffnungsträger einer notwendigen Opposition? Krais: Das ist eine dumme Frage. Von wegen. Krais: Doch. Denn an diesem Punkt muß man fragen, wodurch soziale Bewegungen zustande kommen. Die kommen nicht dadurch zustande, daß man einfach sagt, da passiert etwas Schreckliches, ihr bekommt kein BaföG mehr und, und, und. Gerade deshalb haben sich die Studenten aber noch kürzlich bewegt. Krais: Da tut sich im Augenblick ein wenig was, daraus ist aber keine soziale Bewegung abzuleiten. Sie wollen also wirklich Herrn Negt widersprechen.? Krais: Es ist Unfug eine unorganisierte, amorphe Personenkonstellation zum Hoffnungsträger einer sozialen Bewegung zu machen. Sie müssen einfach wahrnehmen, daß allerorten hoffnungsfroh über die Qualität studentischer Opposition diskutiert wird. Krais: Man kann selbstverständlich die Möglichkeit der Enstehung sozialer Bewegung unter den Studenten natürlich nicht ausschließen. Auch Habermas hat sich Mitte der sechziger Jahre gründlich vertan, als er sagte, Studenten wollten nur studieren, da sei politisch nichts drin. So etwas darf man nun doch nicht sagen, weil die historische Entwicklung nicht prognostizieren kann. Habermas konnte nicht sehen, daß der Vietnamkonflikt so ein zündender Funke werden konnte. Naumann: In internationalen polit–soziologischen Befunden wird eines klar: Die Leute, die sich politisch betätigen, sind eine extrem kleine Minderheit. Gleichzeitig sind in dieser Minderheit Leute mit Studium stark überrepräsentiert. Weiterhin haben wir derzeit eine Verdoppelung der Zahl derer zu verzeichnen, die Abitur haben oder ein Studium abgeschlossen haben. Das Potential derjenigen, die sich für Politik interessieren könnten, ist um ein Vielfaches größer als noch vor Jahren. Schauen Sie doch auf die Gründung Ihrer Zeitung, die Grünen etc., das sind organisatorische Konsequenzen langfristiger Veränderungen. Die kann man nicht wegdefinieren durch eine kurzfristige Krise. Aus dieser Ecke kommt der Staub der Opposition. Nuthmann: Ja, aber nicht von den Universitäten. Die Verlagerung von den Hochschulen in die verschiedensten Initiativen hat zur Folge, daß niemand auf die nötige Opposition vorbereitet ist. Das gilt gerade für die Grünen. Naumann: Man kann doch nicht immer alles auf einmal machen. Man muß es aber sagen können. Naumann: Ok. Die ganze aufgeregte linke Szene hat sich in den letzten Jahren um Themen gekümmert, die ja nun nicht unwichtiger waren als Bildungspolitik. Aus verschiedenen Gründen hielt man die Bildung nicht für wichtig. Jetzt bekommt sie aber einen Stellenwert, weil die Rechte in die Offensive geht. Jetzt muß man anfangen zu diskutieren und Gegenkonzepte entwickeln. Aber bitte schön keine utopischen, die einfache demographische Grundtrends negieren. Ich sehe eine große Zahl von Hoffnungsträgern: die ganze chaotische linke Szene. Nun gibt es Politiker, die hoffen, alles löse sich durch die zu erwartenden abnehmenden Studentenzahlen in den neunziger Jahren. Alle: Alles Unsinn. Nuthmann: Vorsichtig. Ich kenne Kollegen an den kleinen Universitäten, denen bleiben heute schon langsam die Studenten weg. Naumann: Nun bring mal das nicht durcheinander. Natürlich will niemand leugnen, daß dieser Studentenberg abnehmen wird. Ich selber habe hier eine statistische Prognose angefertigt, nach der wir 1995 auf dem Niveau der Studentenzahlen vom Ende der siebziger Jahre anlangen, das danach auch nicht wieder ansteigt. Auf Grund aller Berechnungen werden die Zahlen unheimlich schrumpfen. Es wäre vernünftige Politik, auf diese langfristige Perspektive hinzuweisen. Gleichzeitig wird natürlich auch die absolute Zahl der Absolventen zurückgehen. Bis weit in das Jahr 2000 hinein haben wir eine große Differenz zwischen den frischen Absolventen der Hochschulen und jenen Wissenschaftlern, die den Betrieb verlassen. Hier müssen Anpassungsleistungen erbracht und das Rollenverständnis umgebaut werden. Was ist in diesem Zusammenhang von der Forderung der Westdeutschen Rektorenkonferenz nach einem Notprogramm für den Wissenschaftsnachwuchs zu halten? Man fordert ein Sofortprogramm für 1.000 Stellen. Krais: Das würde ebenso in den Kontext solcher Anpassungsleistungen gehören. Dazu gehört aber auch, daß es nicht als vergeudete Bildungsinvestition angesehen wird, wenn jemand nach seinem Studium nicht promoviert oder hochdotierte Posten einnimmt. Es muß zukünftig einfach in diesem festgefügten Berufssystem für Akademiker eine Flexibilität nach unten geben. Demnach müßte genau das, was wir hier Allgemeinbildung nennen, gerade mehr gefördert werden. Ganz im Gegensatz zu der Auffassung, die Berufsbezogenheit fordert. Krais: Man muß sehen, daß derlei Bildung persönlich etwas bringt und darf nicht nur an dieses „Cash“ und „Bar–Kralle“ denken. Naumann: Jetzt haben wir die ganze Zeit über die Macken der Hochschulpolitik gesprochen, aber nicht darüber, daß diese Macken im Schulsystem nicht auftreten. Dort hat sich die soziale Selektivität in Richtung „mehr Chancengleichheit“ verändert. Krais: Die Kämpfer für die Gesamtschulen, die heute in den Schulverwaltungen sitzen, sagen mittlerweile, es sei Unsinn den Gesamtschulen hinterherzurennen, weil sich im gesamten Schulwesen bereits Gesamtschulverhältnissse durchgesetzt hätten. Wir können die Forderung fallen lassen, die ist historisch überholt. Dann hat die CDU ja recht mit ihrem Kulturkampf, der Förderstufen beseitigt und Gesamtschulen verhindern will? Krais: Nein, die sind ja nun ganz hinter dem Mond. Mehr noch als die SPD. Nuthmann: Das sind letzte heroische Kämpfe. Mich wundert das etwas. Haben wir eigentlich nicht ein SPD–Mitglied in der Runde..? Nuthmann: Doch, doch. Ich fragte mich schon, warum niemand bei der Frage nach Hoffnungsträgern für eine Opposition Namen nannte. Nuthmann: Nein, bildungspolitisch haben die sich doch weitgehend abgemeldet. Aber die SPD prescht doch nach vorne. Jetzt fordern sie sogar vom Bundestag eine Enquete–Kommission „Bildung 2000“. Nuthmann: Na, ist ja prima. Krais: Gut, das kann etwas in Bewegung setzen; so eine Kommission ist überfällig. Naumann: Wir haben seit 75 kein auch nur halbwegs funktionierendes beratendes Organ für Bildungspolitik. Der Bildungsrat ist kaputt gemacht worden, weil er, aus meiner Sicht, unliebsame Probleme produziert hat - das führte zu seinem Suizid. Kurz darauf kam dann die Wende in der Bildungspolitik. Und die kam nicht erst mit Herrn Kohl, sondern bereits Mitte der siebziger Jahre. Wir haben jetzt ein Ministerium, das gibt flächendeckende Studien für die ganze BRD bei HIS in Auftrag, weiß aber gleichzeitig, daß HIS ganz mächtig auf die Finger geklopft wird, ..aber wie! Nuthmann: (lacht) Das ist ja nicht wahr. Das sind „Abstimmungen“ zwischen Ministerium und Forschungsinstitut...... Naumann: Das können Sie reinschreiben. Das wird ihnen jeder im HIS–Laden bestätigen, zumindest hinter vorgehaltener Hand. Ansonsten bestätige ich das. Wir haben das auch schon vorher geschrieben, ohne Bestätigung. Naumann: Andere Studien werden abgebügelt, wenn sie z.B. aus der SPD–Ecke kommen. Und ein Laden wie dieser hier ist abgemeldet. Nuthmann: Trotzdem gibt es derzeit im Institut zumindest individuelle Überlegungen, sich vermehrt bildungspolitisch zu engagieren. Wir danken Ihnen dann für dieses Gespräch. Es sei denn.. Krais: Noch eine Anekdote. Sie betrifft Einstein und die Studierfähigkeit. Als Einstein in Zürich studieren wollte, ist er durch die Zulassungsprüfung der eidgenössischen Technischen Hochschule gefallen und er ist durchgefallen, war nicht studierfähig, wegen seiner schlechten Leistungen in den naturwissenschaftlichen Fächern. Diese Fächer hatte er am Gymnasium damals gar nicht gehabt. Die Geschichte finde ich deshalb beachtenswert, weil nach unseren Vorstellungen Mathematik und Physik unbedingt zur Allgemeinbildung gehören. Offensichtlich war das damals nicht so und man ist trotzdem davon ausgegangen, man habe studierfähige Gymnasiasten. Hätte es nur damals schon Begabtenförderung gegeben. Der arme Einstein. Das Gespräch führte Detlef Berentzen
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