: „Eine eigene deutsche Atombombe ist illusorisch“
■ Alfred Mechtersheimer, Ex–Luftwaffenoffizier, Friedensforscher und Grünen–MdB, zu den Gründen der Bundesregierung, krampfhaft an den Pershing 1a festzuhalten
Frage: Mit auffälliger Hartnäkkigkeit klammert sich die westdeutsche Regierung an 72 veraltete Pershing–1a–Raketen, über die sie in Wahrheit keine Verfügungsgewalt hat. Was steckt dahinter? Will sich die Bonner Regierung damit die Option für den Grundstock einer deutschen Atommacht sichern? Mechtersheimer: Um diese Raketen rankt sich viel Spekulatives. Ich bemühte mich in den letzten Wochen in vielen Gesprächen mit Politikern und Fachleuten um die Klärung dieser Frage. Inzwischen bin ich ziemlich sicher. Hinter dieser ganzen Diskussion steckt nicht der Fakt, den alle suchen. Was steckt denn dahinter, wenn nicht die Absicht, in absehbarer Zeit die Bundesrepublik zur dritten Atommacht in Europa zu machen? Eine eigene deutsche A–Bombe ist illusorisch. Denkbar aber sind zum Beispiel deutsche Trägerraketen mit französischen Sprengköpfen. Vor allem bei der CSU gibt es die große Sorge: Was muten uns die Amerikaner noch alles zu? Wenn auch noch die Pershing 1a weg ist, sagen sie, ginge die deutsche Identität verloren, die Vorstellung von der strategischen Einheit Westeuropas sei nicht mehr aufrechtzuerhalten. Im rechten Spektrum spürt man einen ganz starken anti–amerikanischen Akzent, der deswegen besonders ausgeprägt ist, weil er enttäuschte Liebe bedeutet. Es ist die Angst, alleingelassen zu werden. Deutsches Souveränitätsempfinden hängt offenbar eng mit diesen Waffen zusammen, die mehr psychologische als militärische Bedeutung haben Ja, diese Pershing 1a waren seit ihrer Einführung 1963 der Stolz der deutschen Streitkräfte. Sie sind der wichtigste Hebel für die nukleare Teilhabe am US–Potential und vielleicht bald einmal auch am französischen Potential Für einen souveränen Staat ist dies ja in der Tat eine Hypothek: Deutsche Soldaten warten und bedienen die Trägerraketen, während amerikanische Soldaten die dazugehörigen Sprengköpfe in US–Bunkern auf deutschem Boden verwahren. Die Deutschen haben keinerlei Verfügungsgewalt über diese Waffen. Wie soll denn so etwas im Ernstfall überhaupt funktionieren? Die geltende NATO–Planung sieht vor, daß im Ernstfall ein oder zwei nukleare Warnschüsse abgegeben werden, sobald sich der konventionelle Gefechtsverlauf als nachteilig für die NATO erweist. Zu diesem Zweck ist ein sogenanntes Anforderungsverfahren erforderlich, das der NATO– Oberbefehlshaber in Gang setzt. Über den tatsächlichen Einsatz hat der US–Präsident die einzige Befehlsgewalt. Die Detailplanung übernimmt zum Beispiel das Hauptquartier der Heeresgruppe Mitte in Mannheim. Dieses Kommando ist stark amerikanisch bestimmt, es gibt aber im sogenannten A3–Bereich, im unmittelbaren Einsatzbereich also, deutsche Offiziere. Die Frage aber bleibt natürlich, wie weit die Mitsprache im Ernstfall wirklich praktiziert würde. Gefährlicher als Mittelstreckenwaffen sind die Kurzstreckenwaffen, weil sie auf eigenem Territorium explodieren würden. Dies ist nicht nur eine große Gefahr für das Stationierungsland, sondern auch für die Nachbarländer. Warum bewegt sich in diesem Bereich nichts? Da bewegt sich schon etwas, nur in der falschen Richtung. Während wir um die Abrüstung debattieren, gibt es beispielsweise in der Bundesrepublik die Bemühungen, Atomgranaten für Geschütze mit 155 und 203 Millimeter Durchmesser zu erneuern. Das ist nichts anderes als eine Umrüstung auf neutronenfähige Waffen. Die Vorlage liegt schon bereit. Diese Waffen sind nicht so sehr für den Feind, sondern für das eigene Land, ebenso wie für die Nachbarn, von verheerender Wirkung. Im rechten politischen Spektrum in der Bundesrepublik ist Widerstand spürbar. Das nationale Element wird in jüngster Zeit stärker betont, das stimmt. Stärkeres Nationalbewußtsein - das ist angesichts der deutschen Vergangenheit ein heikler Punkt. Da muß doch das Ausland argwöhnisch reagieren. Für mich war immer klar, seit ich mich mit Abrüstung beschäftige: Eigentlich geht es gar nicht um eine Raketendiskussion, sondern um die deutsche Frage. Das ist der Kern der Debatte, es hat gar keinen Sinn, drumrum zu reden. Ist der Eindruck richtig, daß in Westdeutschland derzeit „unter der Decke“ sehr vieles in Bewegung gerät und daß auf einmal nicht wie noch bis vor kurzem nur in Exotenzirkeln über deutsche Wiedervereinigung und die Neutralisierung Deutschlands debattiert wird? Da ist mit Gorbatschow tatsächlich einiges in der Bundesrepublik in Bewegung geraten. Nach einer bisher nicht veröffentlicheten Umfrage im Auftrag des Zweiten Deutschen Fernsehens sprechen sich zwei Drittel aller Bundesbürger für eine bündnisneutrale Position der Bundesrepublik aus. Gefragt war nicht nach einem einseitigen Austritt aus der NATO, dafür lassen sich nicht viele Stimmen mobilisieren. Aber eine klare Mehrheit spricht sich für einen gleichzeitigen Austritt West– und Ostdeutschlands aus dem jeweiligen Bündnis aus. Das klingt nach Neuordnung Europas. Natürlich ist das eine heikle Diskussion, die sich in der deutschen Öffentlichkeit abzuzeichnen beginnt. Aber man muß den Mut haben, den Gedanken zu Ende zu denken. Man kann nicht davon reden, die US–Raketen weghaben zu wollen - davon redet inzwischen sogar Herr Dregger -, und gleichzeitig so zu tun, als bleibe dies ohne weiterführende Konsequenzen. West– und Ostdeutschland bestehen als gewachsene Ein heit im Bewußtsein der meisten Deutschen fort. Trotzdem kann ich den Spruch nicht nachvollziehen, wonach man Deutschland so gern habe, daß man froh sei, daß es zwei davon gebe. Bei diesem Punkt der Diskussion erlebe ich im Ausland jeweils zwei Reaktionen. Die einen zucken zurück und sagen: Das ist ja doch gefährlicher, als wir dachten. Die andern sagen: Wenn es ein „grünes“ Deutschland wird, militärisch nur noch zur Verteidigung, nicht mehr zum Angriff fähig, dann ist die Entwicklung richtig. Wir stecken mitten in dieser Diskussion drin, ohne daß die Öffentlichkeit die Tragweite realisiert. Wiedervereinigung - ist das nicht eine Phantomdiskussion? Signale in dieser Richtung wur den in der letzten Zeit tatsächlich aus Moskau lanciert, sie kommen aus dem Umfeld von ZK–Berater Portugalow, Gorbatschows Deutschland–Experte. Er hat offensichtlich mit höchster Genehmigung die Möglichkeit, über alles ganz offen nachzudenken und zu reden, was die deutsche Frage angeht. Was sind die Hintergründe dieser Bemühungen? Gorbatschow hat sehr früh erkannt, daß der Konflikt der Supermächte im Grunde mit politischem Management nicht zu lösen ist, daß es sich um einen Gegensatz handelt, der zwar nicht zum Krieg führen muß, der aber als dauernder Konfliktherd bestehen bleibt. Dieser Zustand muß durch ein gesundes Konkurrenzverhältnis zwischen den zwei Systemen abgelöst werden. Entspannung also als Prozeß des ökonomischen Ausgleichs? Für Gorbatschow stellt sich die Frage: Wo kann er für die Sowjetunion die dringend benötigten ökonomischen Reserven mobilisieren, wo kann er die Entlastung im militärischen Bereich realisieren? Und das ist nur möglich, wenn er in den Randfeldern seines Herrschaftsbereiches friedliche Bedingungen schafft. Deswegen bin ich überzeugt, daß die Sowjetunion beabsichtigt, den unnormalen Zustand in Mitteleuropa neu zu definieren. Es gibt für die Sowjets keine schlechtere Konstellation als die bestehende. Aber wir haben es nach wie vor mit zwei völlig gegensätzlichen Wirtschafts– und Gesellschaftssystemen zu tun. Sicher, aber wir müssen in Zukunft auf ganz andere Mechanismen setzen, da werden wir noch Aufregendes erleben. Ich gehe davon aus, daß Osteuropa das größte Investitionsgebiet der modernen Industriegeschichte sein wird. Mit Joint–ventures ist heute schon vieles möglich, was noch vor wenigen Jahren als indiskutabel galt. In der Sowjetunion ist die Bereitschaft groß, die EG als Partner zu akzeptieren. Auf dieser Ebene läßt sich vieles erreichen, ohne gleich an nationale Besitzstände heranzumüssen. Können Sie sich eine deutsche Konföderation vorstellen, bestehend aus West– und Ostdeutschland? Die Idee einer Konföderation ist durchaus realisitsch, sie wird auch in der DDR diskutiert. Wenn die Sowjetunion in diesem Bereich etwas qualitativ Neues lanciert, dann wird sie dies freiwillig nur im Zusammenhang mit ihren ureigenen Sicherheitsinteressen tun und es keinesfalls als originär deutsch– deutsche Angelegenheit behandelt wissen wollen. Aber dies alles, auch eine notwendige Liberalisierung in Osteuropa, ist nur denkbar bei einem ökonomischen Ausgleich zwischen Ost und West. Ein Prozeß, der übrigens durchaus vergleichbar sein könnte mit der Angleichung zwischen Nord– und Südeuropa. Warum denn nicht einmal die Idee eines kollektiven Sicherheitssystems für ganz Europa durchdenken, das den europäischen Teil der Sowjetunion einschließt? Die Zukunft Europas erfordert ein neues Politikverständnis, ein neues Denken in der Außenpolitik. Ein Mann wie Hans Dietrich Genscher, so sehr ich ihn schätze, repräsentiert diese Geschäftigkeit nach außen, wie sie klassischer nationalstaatlicher Verhaltensweise entspricht, die Spätform einer imperialistischen Grundhaltung. Das ist ein veraltetes Staatsverständnis. Ich habs befürchtet: Jetzt auch noch die Vereinigten Staaten von Europa? Nein, um Gottes Willen, ich halte nichts von supranationalen Träumereien. Ganz kann man nicht auf Nationalstaaten verzichten. Aber ein wichtiger Punkt einer dauerhaften europäischen Friedensregelung ist die wirtschaftliche Verflechtung, die ja heute schon sehr eng ist und die auf nationalstaatliche Grenzen keine Rücksicht mehr nimmt. Und als weitere Bedingung für eine dauerhafte friedliche Lösung in Europa betrachten Sie die Überwindung der deutsch–deutschen Teilung? Ja, wobei sich denke, daß eine beidseitige Selbstbeschränkung im Rüstungsbereich zwangläufig in diese Richtung führt. Eine Neudefinition des Varhältnisses der DDR und der Bundesrepublik ist notwendig. Ziel muß ein Zustand sein, der den Beziehungen zwischen Westdeutschland und Österreich entspricht. Greifen Sie hier den Realitäten nicht viel zu weit voraus? Ich bin durchaus optimistisch, daß der jetzt in Ansätzen spürbare Veränderungsschub in Europa groß genug sein wird. Es gibt günstige Faktoren. Westeuropa ist wirtscahftlich enorm stark, und solche Veränderungen sind nur unter ökonomisch günstigen Bedingungen denkbar. Ich setze sehr stark auf historische Prozesse, die einsetzen, auch wenn man sie nicht will. Es gibt die Vermutung, daß sich in der neueren Geschichte Europas alle dreißig oder vierzig Jahre die Konstellation erheblich verändert hat, leider nicht durch friedliche Mittel. Eben. Fürchten Sie in Europa nicht eine Diskussion über deutschen Revanchismus, Wiederherstellung der Grenzuen von 1937 und ähnlich Merkwürdiges? Ich komme aus der Pfalz, einer Grenzregion zu Frankreich, wo ich nun wirklich keinen deutsch– nationalen Geist von Anno dazumal aufspüren kann. Baden–Württemberg, mein Gott, der aggressivste Geist dort ist der Häuserbauer und die Exportwut. Und Bayern, da ist König Ludwig II. noch immer repräsentativ, der sich in einer Jagdhütte versteckte, als er 1870 den Beistandsvertrag zum preußisch–französischen Krieg unterschreiben sollte. Das einzige, wo ich Bedenken hätte, ist Preußen. Preußischer Geist ist nicht tot. Und dort, auf ehemals preußischem Boden, liegt nun ausgerechnet die DDR. Es ist ein furchtbar preußischer Sozialismus, der dort praktiziert wird, und manchmal weiß ich nicht, welches Element in der DDR prägender ist, das Preußentum oder der Sozialismus. Wer die deutsch–deutsche Frage anpackt, muß wissen, daß dort der eigentliche Pfropfen liegt. Preußischer Geist und preußische Verhaltensweisen sind bis heute nicht durch Demokratisierung relativiert worden. Könnte eine Diskussion mit so weitgehenden Zielen, wie Sie formulieren, nicht auch hierzulande außer Kontrolle geraten? Es könnte jemand kommen, davor habe ich tatsächlich Angst, der sagt, Versailles sei eine Lappalie gegenüber dem Ist–Zustand, den wir hier haben, und der unsere Souveränität stark beschneidet. Sie meinen die Stationierung von 230.000 Soldaten und ihren mehreren tausend Nuklarsprengköpfen und chemischen Waffen auf westdeutschem Boden. Man hat sich an diese größte Anomalie gewöhnt, die man sich in zwischenstaatlichen Verkehr überhaupt vorstellen kann: nämlich eine über Jahrzehnte gehende Fremdstationierung in Friedenszeiten, sowohl hier wie in der DDR. Historisch gibt es kein Beispiel dafür. Und mir war von Anfang an klar: Wenn das hierzulande erst begriffen wird, kommt eine ganze Menge in Bewegung. Ich bin sicher, daß in jedem anderen Land dieser Entlegitimationsprozeß von der NATO längst ein Thema wäre. Hier wird das erst unterschwellig andiskutiert. Die Bundesrepublik ist die einzige Combat–Zone, die in den NATO– Vorschriften und -Bestimmungen vorgesehen ist. Das einzige Verwunderliche ist, daß hierzulande die Menschen die Erkenntnis so lange hingenommen haben, daß die NATO ein Bündnis auf Kosten der Bundesrepublik ist. Wer begriffen hat, daß beide Supermächte die Risiken der eigenen Rüstung aus dem Land wegverlagert und dorthin gebracht haben, wo sie am leichtesten unterzubringen sind, der kann eine solche Politik nicht länger mittragen. Sind die politischen Parteien zu dieser Diskussion wirklich bereit und in der Lage? Diese Diskussion wird in konservativen Parteien weit schwerer zu führen sein als in der SPD. Den Konservativen bricht ihr äußeres Feindbild weg, und auch das innere Feindbild zerbröselt allmählich. Heute darf man mit Kommunisten ungestraft sprechen. Noch vor wenigen Jahren bin ich wegen dieses Delikts aus der CSU ausgeschlossen worden. Jetzt hätte ein solcher Antrag keine Chance mehr. Da hat sich manches verändert. Das Gespräch führte Fred David Abdruck aus Weltwoche Nr.26, 25. Juni 87
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