: Ein Super–GAU der Natur in Norditalien
■ Zahlreiche Todesopfer durch Unwetter trotz rechtzeitiger Vorwarnung/Zivilschutz gegenüber Massentourismus machtlos/ Die illegale und dennoch geduldete Bautätigkeit in gefährdeten Gebieten ist Hauptursache der Katastrophe
Aus Sondrio Werner Raith
Drei Komponenten, resümiert der Maresciallo des Zivilschutzkommandos, der den Flug unseres Teams aus Sicherheitsgründen begleiten muß, „jede für sich beherrschbar“, reichen aus, „eine Situation wie nach einem Bombenangriff zu schaffen“. Die drei Komponenten heißen diesmal Unwetter, Lufthitze in großer Höhe - und ein unbewältigter Fremdenverkehr auf den Straßen wie in den Erholungsgebieten, oft in weitgehend unzugänglichen Gebirgstälern oder in luftigen Höhen. Der Anblick, der sich aus der Cessna in achthundert Metern Höhe über dem Bergamasco in der oberen Lombardei bietet, erinnert an die großen Überschwemmungskatastrophen in Indien oder China. Hunderte von Häusern durch reißende Wasserstrudel eingekesselt, ehemals üppige Bergwiesen in steinbruchartige Abgründe verwandelt, auf der Staatsstraße 38 zwischen dem Comer See und Sondrio lange Autokolonnen, offenbar verlassen - dann, wo die Straße ehemals die Adda kreuzte, bei Morbegno, die Ausfransung der vorher fast schnurgeraden Autolinie: das Wasser hat sie auseinandergeschwemmt, dann wieder zu Haufen geballt; an den Rändern des braunen Schlamm– und Wasserstroms tauchen ab und zu weitere Wracks auf. „Die völlig ungewöhnliche Hitze in drei– bis viertausend Metern“, erklärt der Zivilschutzbeamte, „hat Gletscher und letzte Schneereste zum Schmelzen gebracht; das ist an sich kein Problem, es läßt die Bäche allenfalls 25 cm ansteigen. Doch die 48–Stunden–Wolkenbrüche ha ben das Hochwasser vervielfacht, zum Teil sind die Flüsse fünf Meter über Normalstand. Auch das ist, isoliert, „jedenfalls so zu beherrschen, daß man die Leute warnen und notfalls evakuieren kann. Aber mit zusätzlichen zehn– bis fünfzehntausend Touristen, die dieses Wochenende hier eingefallen sind, die die Rundfunkwarnungen weder hören noch kapieren...“ Tatsächlich gab es seit Samstagmittag ständige Warnungen über Radio, keine Wanderungen zu unternehmen. Doch die Toten hat es nun in den Häusern gegeben. In Tartano, 1.200 Meter hoch, ist die Ruine des in sich zusammengestürzten „Albergo Gran Baita“ aus der Luft zu erkennen, dahinter ein ehemals dreistöckiges Wohnhaus, von dem nur noch das hintere Drittel steht; sieben Tote wurden daraus bisher geborgen. Unter uns mindestens zwei Dutzend Hubschrauber im permanenten Rettungseinsatz, viele Menschen stehen auf Hausdächern - „Begeben Sie sich unverzüglich auf Höhen, die mindestens 50 Meter über dem derzeitigen Wasserstand sind“, empfiehlt der Radiosprecher. Trotzdem sieht man noch immer Autos, die durch den Schlamm zu Tal zu fahren versuchen, oft direkt auf die sich ausbreitenden Sturzbäche zu. Zivilschutzminister Zamberletti, dessen seit den neapolitanischen Erdbeben 1980 eingerichte tes Amt viel Kritik einstecken mußte, ist sich diesmal „ganz sicher, daß man mehr wirklich nicht tun konnte“. „Rund 50 Hubschrauber sind im Einsatz, unzählige Amphibienfahrzeuge und Rettungswagen und mehr als 1.500 Zivilschützer und Soldaten.“ Doch viele Einsatzkommandos warten noch immer weitab vom Katastrophengebiet, weil die Zivilschutzpläne nicht in Rechnung gezogen haben, daß oft nicht nur im Krisenzentrum, sondern schon davor die Zufahrtstraßen unterbrochen sind. So kommen Hunderte von Sanitätern, Baggerführern, Tauchern und Pionieren nicht zu ihren Einsatzorten, weil die für ihren Transport vorgesehenen Hubschrauber pausenlos benötigt werden zur Bergung von immer wieder in Waldschneisen, auf Felsspitzen oder auf Autokühlern auftauchender Menschen. Mehr als 60 der 68 Ortschaften der Provinz Sondrio sind weitgehend abgeschnitten. Doch das wahre Problem liegt im Bauwesen. Hundertfünfzig Meter breit sind die Schutzzonen rechts und links von Flüssen und Seen; doch an vielen Stellen wird weniger als hundert Meter von den Flußrändern entfernt gebaut. Und manchen Wochenendhäuser und Hotels sieht man die erst kürzlich erfolgte Fertigstellung deutlich an. „Es gibt da nur zwei Lösungen“, meint unser Flugbegleiter, „entweder die gefährdeten Häuser werden für unbewohnbar erklärt - oder wir müssen mächtige Talsperren und Flußbegradigungen ausgerechnet in diesen Gebieten vornehmen.“ Inzwischen haben zusätzlich zu Veltlin, Como, Sondrio und Bozen auch die Provinzen Bergamo, Belluno, Varese und Trient Alarm gegeben - was Zehntausende von Urlaubern zu panischer Flucht veranlaßt hat - mit möglicherweise katastrophalen Folgen, denn die Übergänge nach Norden sind verstopft. Die Gefahr ist groß, daß die Flüchtlinge nun von den nächsten Unwettern auf der Straße überrascht werden.
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