piwik no script img

„Wo bitte ist hier die Katastrophe“

■ Späte Schneeschmelze und Schnürlregen in den Alpen ließen den Bodensee über die Ufer treten / 600 Mann aus Freiwilliger Feuerwehr, Bundeswehr und THW wurden eingesetzt / Vom mißlungenen Versuch, einer Katastrophe auf den Grund zu gehen

Aus dem Kanu D. Willier

In den vergangenen Jahren, so der Besitzer eines Campingplatzes gegenüber der Bodenseeinsel Mainau, habe man ja häufig befürchtet, die Schwaben mit ihren nitratverseuchten Grundwasserbrunnen würden den Bodensee eines Tages noch leersaufen. Die Gefahr ist gebannt. Späte Schneeschmelze und wochenlanger Schnürlregen in den Alpen ließen den größten europäischen Binnensee über die Ufer treten. Von ehemaligen Strandbädern sind nur noch die Dächer der Umkleidekabinen zu sehen, Tische und Stühle von Gartencafes und Kneipen mit Seeblick dümpeln im Wasser, Hotels und Spezialitätenrestaurants sind wegen Überflutung der Gasträume „vorläufig geschlossen“, in einer Garage, die vormals eine Limousine barg, ist jetzt das Motorboot festgezurrt. Eine Katastrophe fürchtete die Stadt Konstanz, nachdem der Rheinzufluß 70.000 Quadratmeter Treibholz samt Baumstämmen und einer nicht identifizierten Leiche in den See entlassen hatte und die in ungeordneter Formation einer See–Enge, dem Konstanzer Trichter zutrieben. Die eiserne Brücke, die die zwei Hälften der Stadt dort verbindet, so die Ängste, möchte dem geballten Anrücken der Baumstämme nicht widerstehen und in Stücke gehen. Oder, noch schlimmer, es würde eine Art natürlicher Staudamm den Rheinabfluß verbarrikadieren und die nachkommenden Wassermassen die Stadt überfluten. Nichts von alledem. Die Katastrophe blieb aus. Mehr als 600 Mannen der freiwillen Feuerweh ren, Bundeswehr und des technischen Hilfswerks verstanden es, das Treibholz abzulenken. Seit Beginn der Woche haben die Hilfskräfte Urlaubsverbot. Dort wo man sonst Bodenseefelchen und Barsche aus dem Wasser zog, werden jetzt Holz, Tang und Wurzelwerk geborgen und in großen Containern abtransportiert. Die Freiburger Forstdirektion empfahl, das unerwartete Treibgut den Papierfabriken zur Entsorgung zu überlassen. Ein Konstanzer Regierungsdirektor lobte die deutsch–schweizerische, internationale Zusammenarbeit - erstmals hatten Bundeswehreinheiten für Hilfsdienste in schweizerisches Hoheitsgebiet eindringen dürfen. Die Pegelstandsmesser der Bodenseegemeinden melden seit gestern millimeterweise sinkendes Hochwasser. Noch arbeiten zwar, vor allem in Schweizer Gemeinden, rund um die Uhr die Pumpen um Heizungs– und Vorratskeller, um Küchen– und Gasträume der Seerestaurants wieder seewasserfrei zu bekommen. Noch ziehen ganze Schwärme neugeborener Felchen, Barsche und Hechte mit unsicher ruckartigem Kurs durch die überschwemmten Straßen der Bodenseegemeinde Berlingen. Noch ist diese Gemeinde nur über eilig erbaute Holzstege zu passieren, sind Bäckerei, Kolonialwarenladen und Frisiersalon nur über weitere Holzbohlen trockenen Fußes zu erreichen. Noch steht die Kühlvitrine der Metzgerei, gefüllt mit Würsten, Fleisch und Geselchtem, fußtief im Bodenseewasser - aber eine Katastrophe ist das, angesichts sonstiger Zustände auf der Welt, schlimmstenfalls fürs Touristikgeschäft. Eine Katastrophe? Die Nacht auf Freitag vergangener Woche war lau und mild wie selten in diesem Sommer, die Biergärten in Konstanz - wie immer bei solcher Witterung - wie leergefegt. Schutzsuchend hatten sich die Gäste ins innere der Kneipen zurückgezogen, blutrünstig stürzten sich draußen regelrechte Stechmückeninvasionen auf alles, was nach Leben roch. Da war über Rundfunk die Meldung einer Agentur zu hören, auf dem See trieben mit großer Geschwindigkeit und unaufhaltbar besagte Treibholzfelder geradewegs auf Konstanz zu. Endlich war etwas los in der Stadt, deren sommerliches Flair sonst eher von der Behäbigkeit der Promenadengäste, der südländischen Exotik von Eisdielen und der blauweißen Eleganz der Yachtclubs geprägt ist. Ein Stück Abenteuerurlaub (“Wo bitte ist hier die Katastrophe?“), sonst nur weit weg und mit teuren Touristik– Clubs, schien jetzt umsonst und vor der Haustür geboten. Zu Hunderten war man auf die alte Rheinbrücke gezogen, klein, groß, alt und jung, um der nahenden Katastrophe beizuwohnen, dem Krachen und Bersten der Brückenpfeiler, dem Aufruhr in der sauberen Stadt. Doch sie kam nicht, die Katastrophe. Nicht diese Nacht und auch nicht die nächste. An den Enterhaken der Hilfsmannschaften war sie hängengeblieben, und die Strömung hatte nachgelassen. Seither ist alles fast wie bisher, nur der Sommerschluß–Verkaufsdampfer des Textilhauses Adler, im Konstanzer Hafen vertäut, muß jetzt über eine Rampe bestiegen werden, die Schwäne schwimmen auf der Promenade, das Hochwasser hat die alten Besitzverhältnisse wiederhergestellt - die Uferwege sind verschwunden, die Markierungslinien zwischen Wasser und Land sind wieder die Zäune und Mauern der Parks eleganter Strandvillen. Fische, Enten, Frösche und anderes Seegetier haben ihr Revier kaltschnäuzig bis dorthin ausgebreitet. Vor wenigen Tagen haben halsbrecherische Zyniker den Konstanzer Pulverturm hinter der Rheinbrücke, mit einem Spruch besprüht: „Mein Wasser wird immer fließen, aber ihr werdet leiden.“ Auf die Verhinderung einer letzten großen Katastrophe für Konstanz verweist ein Gedicht in der Wirtschaft „Trompeterschlössli“, gleich hinter der Schweizer Grenze: „Verhandelt wurde hier vor Jahren, Konstanz vor Trümmern zu bewahren. Der Bürgermeister mit Franzosen, zusammen mit den Eidgenossen, vollbrachten diese gute Tat, dafür sei ihnen Dank gesagt.“ (April 1945).

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen