piwik no script img

Küsse aus Puebla nach Wolfsburg

■ Der Streik im mexikanischen Volkswagenwerk von Puebla dauert schon sechs Wochen / Solidaritätsstreiks anderer Branchen unterstützen die über 10.000 Automobilbauer / Der durchschnittliche Tageslohn von zwölf Mark reicht lange nicht mehr zum Überleben einer Familie

Aus Puebla Leo Gabriel

„Willkommen in Puebla, der Hauptstadt des Volkswagen!“ Das Schild ist auf der Autobahn schon von weitem zu sehen. Gleich dahinter die Galerie von langgestreckten Werkshallen, auf den Dächern der vertraute Kreis mit dem V und dem W in der Mitte. Die Einfahrt in die Stadt, eine gute Autostunde östlich der Hauptstadt im zentralen Hochland Mexikos gelegen, bietet dann ein ganz anderes Bild: Puebla ist immer noch eine der mexikanischen Städte, die am meisten ihren historischen Charakter bewahrt haben. Schon während der spanischen Kolonie war die Stadt mit ihrer symbolträchtigen Zahl von 365 Kirchen ein kulturelles Zentrum, und von der hochentwickelten Architektur der Azteken zeugt noch heute eine Fülle steinerner Überreste. 1968, als auch in Mexiko die Studentenbewegung auf dem Höhepunkt war, galt die Universitätsstadt als eine der politisch aktivsten. Kaum vier Jahre später schon war Puebla auch eines der wichtigsten Zentren einer neuentstandenen Arbeiterbewegung, der sogenannten „unabhängigen Gewerkschaften“, die sich von der Bevormundung durch die von der Staatspartei PRI (“Institutionalisierte Revolutionspartei“) dominierte Einheitsgewerkschaft (Confederacion de Trabajadores Mexicanos, CTM) befreit hatten. So wurden neben dem traditionellen Kunsthandwerk und der „mole poblano“, einer gepfefferten Schokoladensoße,jetzt auch die Arbeiter der 1966 gegründeten Volkswagenfabrik über die Grenzen des gleichnamigen Bundesstaates hinaus bekannt. Seit dem 1.Juli nun steht die Gewerkschaft der 10.500 Automobilarbeiter von Puebla wieder im Mittelpunkt des nationalen Interesses. An diesem Tag begann der Streik, der die Produktion der deutschen Tochtergesellschaft jetzt schon fast sechs Wochen lang lahmlegt. Seitdem findet die ehrwürdige Kolonialstadt keine Ruhe mehr. Am 8. Juli blockierten die demonstrierenden Arbeiter die sechs wichtigsten Ausfallstraßen und legten den Verkehr in ganz Puebla lahm. Begleitet wurden sie dabei von den Angehörigen der Gewerkschaft der Straßenverkäufer, die bei der Gelegenheit auch gleich ihre Lohnforderungen durchsetzen wollten. Etwas später schlossen sich der Streikbewegung auch die Lehrer an. Die Studenten, die seit den sechziger Jahren immer wieder einen sozialistischen Rektor gewählt haben, stehen heute mit Rat und Tat den Arbeitern zur Seite. Die Universität hilft beim Transport und der Versorgung der Arbeiter mit Lebensmitteln. Für die Aufrechterhaltung der Streikruhe sorgen allerdings die Arbeiter selbst. Ein sechsköpfiges Streikkomitee überwacht die Anwesenheit einer Hundertschaft, die sich in regelmäßigen Abständen ablösen. Die Arbeiter vertreiben sich dabei die Zeit mit Baseball und Kartenspielen, oder sie plaudern einfach mit ihren Kollegen vor einem der Transparente, die die Solidarität mit den Streikenden bekunden. „Was wir wollen, ist nur eine teilweise Angleichung der Löhne an die gestiegenen Lebenshaltungskosten“, faßt der Organisationssekretär der „Unabhängigen Gewerkschaft der Volkswagenarbeiter“ zusammen. Seine Rechnung ist denkbar einfach: Bei einem durchschnitt lichen Tageslohn von 7.000 Pesos (zwölf DM) bleibt auch den besserbezahlten Arbeitern nicht viel. Das sind im Monat rund 150.000 Pesos. Eine Monatsmiete auch für die einfachste Hütte kommt heute schon auf 50.000. Auch wie man eine vielköpfige Familie mit weniger als 200.000 Pesos monatlich ernähren kann, bleibt den Außenstehenden ein Rätsel, das die große Mehrzahl der Mexikaner jeden Monat aufs neue lösen muß. Eine Lösung: Die Frau arbeitet mit. Im Volkswagenwerk gibt es 400 weibliche Arbeiter, die ebenso riskante Arbeiten verrichten müssen wie ihre männlichen Kollegen. „Wenn wir neue Werkzeuge verlangen, weil uns die alten Bohrer nur allzuoft verletzen, dann sagen sie, wir sollen uns an das gewöhnen, was wir haben. Das Unternehmen stellt uns nicht einmal Handschuhe für das Schweißen zur Verfügung, weil wir damit angeblich die Ersatzteile schmutzig machen würden“, erklärt Irene Cruz, eine der weiblichen Gewerkschaftsdelegierten. Oft müssen die Frauen mehr ertragen als die Männer. „Auch wenn wir schwanger sind, lassen sie uns schwere Pakete schieben oder schleppen, obwohl das Arbeitsgesetz das ausdrücklich verbietet. Wir haben noch nie gesehen, daß VW dieses Gesetz befolgt“, fügt Irene hinzu. Mehr erzählen uns dann die streikenden Arbeiterinnen, die vor dem Haupteingang des Werkes kauern. Wir dürfen sogar ins „Frauenzelt“, das die Arbeiterinnen dort aufgeschlagen haben. Anfangs ist die Stimmung gedrückt. Bisweilen leuchtet Wut aus ihren Augen: „Für die Kinder bezahlen sie uns 1.900 Pesos im Monat extra“. (Das sind nicht einmal drei Mark.) „Dafür müssen wir sie dann alleine in die Schule schicken oder zu unseren Verwandten geben, denn für einen Kindergarten haben sie angeblich kein Geld“, klagt eine Vierzigjährige, die schon 19 Jahre bei VW arbeitet, aber immer noch 7.700 Pesos (ca. 13 DM) am Tag verdient. Zwei Dutzend Frauen umrin gen mich, um sich über die knausrige und erbarmungslose Unternehmenspolitik bei VW zu beschweren. Sie glauben, daß ein Bericht über ihren Streik in der Bundesrepublik Wunder wirken könnte. Deshalb stelle ich an alle die unverblümte Frage: „Was wollt ihr denn den Deutschen sagen, wenn ihr Gelegenheit dazu habt?“ Nach kurzem Schweigen in der Runde ergreift eine junge Frau, die gerade an einer Weste strickt, das Wort: „Sagen Sie ihnen, daß sie endlich aufhören sollen, uns absurde Ideen zu schicken. Sie lassen uns hier genauso hart arbeiten wie die Arbeiter drüben, aber zahlen uns dafür viel weniger. Die Deutschen kommen angeblich, um uns etwas beizubringen, aber in Wirklichkeit nehmen sie sich nur das Geld mit, das wir verdient haben.“ Die Vorarbeiterin, die mir später erzählte, daß sie vier Kinder durchzubringen hat, war derart ehrlich erzürnt, daß es ihr nicht einmal aufgefallen war, daß ihre Kolleginnen rundherum über ihre eindringlichen Gesten, die ihre Worte begleiteten, zu lachen begannen. Der Bann war gebrochen und als ich dann ein junges Mädchen scherzhaft fragte, ob ich diese Botschaft den Kollegen bei Volkswagen in Wolfsburg mitteilen sollte, strahlte sie mich an: „Denen natürlich nicht; denen schicke vor allem viele Küsse...“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen